Re: Lady Gaga

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annamax

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Was Jan Ulrich Welke hier inder Stuttgarter Zeitung über die ’neue Madonna‘ schreibt, kann ich komplett unterstreichen.

Lady Gagas kalkulierter Erfolg
Jan Ulrich Welke, veröffentlicht am 10.09.2010

New York – Yonkers liegt im äußeren Speckgürtel einer US-Metropole. Menschen ziehen dorthin, denen pulsierende Urbanität, flirrendes Großstadtflair, spontane Ausgehlust oder schickes Hipstertum nicht wichtig sind. Hier, in der Provinz des US-Bundesstaates New York, ist die Sängerin Stefani Joanne Angelina Germanotta aufgewachsen. Das schändet nicht, denn in dieser Stadt sind auch die herausragende Sängerin Ella Fitzgerald, die exzellente Sängerin Mary J. Blige oder der Aerosmith-Frontmann Steven Tyler groß geworden. Bemerkenswert ist allenfalls, dass beständig behautet wird, Lady Gaga sei eine gebürtige Einwohnerin von New York City.

Fitzgerald wuchs als Vollwaise auf, die in ihrer frühen Jugend sexuell missbrauchte Mary J. Blige als Tochter ihrer alleinerziehenden Mutter Cora, Tyler als Kind einer indianischstämmigen Mutter; derlei Unbilden jedoch blieben Stefani Germanotta, der Tochter eines erfolgreichen Internetunternehmers und einer Top-Telekommunikationsmanagerin erspart.

Als die Eltern, Stefani Germanotta war mittlerweile neun Jahre alt, standesgemäß in die Upper West Side in Manhattan übersiedelten (nun tatsächlich in jenem New York City, das als ihre Heimatstadt ausgegeben wird), war das Beste gerade genug. Die Tochter genoss Bildungschancen, von denen Schüler in Salem nur träumen können. Dank ihrer reichen Eltern Joseph Germanotta und Cynthia Bissett ging sie zunächst auf die Covent of the Sacred Heart High School in der sündteuren New Yorker Upper East Side, eine etablierte Mädchenschule, die 30.000 Dollar Unterrichtsgebühr pro Jahr verlangt und an der zum Beispiel Paris Hiltons Schwester Nicky ihre Klassenkameradin war.

Statt weiter zu studieren, schlägt sie sich als Tänzerin durch

Anschließend besuchte Germanotta die Tisch School of Modern Arts am Broadway, bei der allein das Grundstudium mit 42.550 Dollar zu Buche schlägt. Eine schöne Wohnung im East Village spendierten ihr die Eltern dazu, strebsam dankte es die Musterstudentin mit Einsernoten in Serie. Dass sie sich dem Studium schon nach einem Jahr nicht mehr gewachsen sah, sich stattdessen als Go-go-Tänzerin durchschlug und von Kokain abhängig wurde, hat Daddy ihr umgehend verziehen.

„Lady Gaga überrascht mit total abgefahrenen Outfits, irren Kunstfrisuren und verrückten Sprüchen“, schreibt die „Bravo“. Das ist natürlich keinesfalls Ausweis irgendeiner musikalischen Qualität, komische Kleidung trägt auch Gloria von Thurn und Taxis, eine seltsame Kunstfigur nannte auch Rudolph Mooshammer sein Eigen, verrückte Sprüche klopft auch Thilo Sarrazin: Doch als Künstler wird man wohl keinen von ihnen titulieren wollen.

Wer Lady Gaga als „Shocking Queen“ bezeichnet (wie dies ihre deutschen Biografen Michael Fuchs-Gamböck und Thorsten Schatz tun), hat wohl noch nie Lux Interior von den Cramps, Stiv Bator von den Lords of the New Church oder G. G. Allin auf einem Konzert erlebt. Deren Konzertperformances waren tatsächlich exaltiert; allein einen mehrmaligen Wechsel der Garderobe während des Auftritts, der Lady Gaga zu einer vermeintlich „heißen Bühnenshow“ (Fuchs-Gamböck/Schatz) verhilft, wird man wohl schwerlich mit diesem Adjektiv belegen wollen. Mal davon abgesehen, dass dies nicht gerade innovativ ist: Elton John ist seit Dekaden für einen extrovertierten Habitus bekannt. Freilich ohne dass er dazu – wie Lady Gaga – eine externe Firma bemühen müsste, die das komplette Image zu einer durchgestylten Marke formt und vermarktet.

Gagas Musik ist im Rundfunk omnipräsent

Ebenso erstaunlich hartnäckig hält sich das Gerücht, Lady Gaga sei „die neue Madonna“ oder hätte zumindest das Potenzial dazu. Auch das ist natürlich hanebüchener Unsinn. Eine Sängerin, die bisher lediglich ein einziges Album veröffentlicht hat und erst seit zwei Jahren professionell als Musikerin arbeitet, mit einem voll im Saft stehenden Megastar zu vergleichen, der auf eine fast dreißigjährige künstlerische Weltkarriere mit einem Dutzend maßstabsetzender Alben zurückblickt – der unverschämte Vergleich könnte gar nicht mehr hinken. Selbst wenn sich der kommerzielle Erfolg der 24-jährigen Debütantin Lady Gaga noch ein Jahrzehnt lang fortsetzen sollte, wäre sie immer noch Lichtjahre von der Lebensleistung Madonna Louise Ciccones entfernt. Von der künstlerischen Wirkmacht braucht man in diesem Zusammenhang gar nicht erst zu reden.

Reden kann man allerdings über Lady Gagas Werk – es ist schließlich im doppelten Wortsinn leicht zugänglich, da es verblüffenderweise im Rundfunk omnipräsent ist. Nachdem Lady Gaga zunächst Lieder für künstlerisch irrelevante Formationen wie die Pussycat Dolls verfasst hatte, brachte sie 2008 mit Hilfe der Musikproduzenten Akon und Colby O’Donis ihre Debütsingle „Just Dance“ heraus, die sich im Wesentlichen aus merkwürdig gestrig klingenden Keyboard-Dur-Harmonien speist, über die sich Lady Gagas annehmbare, allerdings recht finessenarme und in der Höhe etwas dünne Sopranstimme legt.

„Just Dance“ ist der Eröffnungssong ihres 2008 erschienenen Albums „The Fame“, das ein paar weitere recht eingängige Lieder enthält, die Furore machten. 2009 wurde das gleiche Album um ein paar Stücke ergänzt als „The Fame Monster“ wiederveröffentlicht. Im Februar dieses Jahres erschienen auf der CD „The Cherrytree Sessions“ das Lied „Just Dance“ und zwei weiteren Albumsongs abermals, und im März dieses Jahres wurde das Album als „The Remix“ zum vierten Mal veröffentlicht.

Sie hat keinen Song allein geschrieben

Allein geschrieben hat Lady Gaga übrigens keinen einzigen der Songs, doch wie man aus der geringstmöglichen Substanz das größtmögliche kommerzielle Potenzial abmelken kann, scheint Lady Gaga in den Wirtschaftslehrestunden auf ihrem Elitegymnasium in der US-Finanzmetropole offenbar gut gelernt zu haben. Dass ein Musikerleben aus künstlerischer Fortentwicklung, schöpferischer Innovation, kontinuierlicher Entfaltung, womöglich gar dem Bestreben, dem Œuevre etwas hinzuzufügen besteht, ging da wohl unter.

Stringenterweise werden es die Juroren also sorgfältig vermeiden, ihr am Sonntag bei der Gala in Los Angeles auch nur einen einzigen der MTV Video Music Awards zukommen zu lassen. Verblüffend ist jedoch, dass sie für 13 Awards nominiert worden ist – ein Rekord in der Geschichte dieses Preises. Es mag dem Umstand geschuldet sein, dass der frühere Musiksender kommerziellen mit künstlerischem Erfolg verwechselt, ihm musikalische Substanz oder ästhetische Gestaltungshöhe vollkommen egal ist, oder dass er angesichts der „schrillen Sängerin“ („Bild“) auf einen neuerlichen Skandal von jener Wahnsinnskragenweite hofft wie dereinst, als Madonna und Britney Spears es doch tatsächlich wagten, sich auf der Award-Bühne zu küssen.

Sicher ist jedenfalls, dass es sich bei Lady Gagas Songs um nicht sonderlich abwechslungsreiche, vergleichsweise simpel instrumentierte, auf eine minderkomplexe Art melodiöse und vor allem wohlfeil kalkulierte Musik handelt, die alles sein mag, nur eines ganz gewiss nicht: schrill.

http://www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/2622692_0_6815_-popmusik-lady-gagas-kalkulierter-erfolg.html?_skip=0

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I'm pretty good with the past. It's the present I can't understand.