Re: Westernhagen – Williamsburg

#7346309  | PERMALINK

tops
This charming man

Registriert seit: 04.05.2003

Beiträge: 3,598

j.w.tops, ich gehe davon aus, dass Du das Album gehört hast – kannst Du in Deinem Urteil die Musik von dem Sänger bzw. der Person MMW trennen?
Würdest Du die Platte (nur auf gespielte Töne, Songs und Produktion bezogen) genauso beurteilen, wenn sie von einem unbekannten Sänger aus Williamsburg stammen würde?

Ja Jan, davon kannst Du getrost ausgehen. Ich bin kein Hobbyhörer, der nur hören will, was ihm „gefällt“. Im Gegenteil, erst das systematische Zurkenntnisnehmen aller erreichbarer Veröffentlichungen, auch der lausigsten, bietet einen verlässlichen Fundus für Beurteilung.

Deinem Ansinnen des Auseinanderklamüserns verschiedener Versatzstücke dieser oder anderer Aufnahmen möchte ich aber nicht nachkommen. Sicher, man könnte das tun. Man könnte etwa bei einer Filmbetrachtung völlig davon abstrahieren, daß die Handlung hanebüchen ist, die Dialoge deppert, das schauspielerische Vermögen unzureichend, weil – jetzt kommt’s – der Schnitt ganz manierlich ist. Der Film wäre immer noch schlecht.

Analog dazu könnte man, so man wollte, konzedieren, daß die Instrumentierung hier und da recht manierlich ist, auf zwar kalkulierte, aber gekonnte Art, ohne Feuer zwar, dafür aber absolutely safe, Digi-komprimiert und leblos zwar, aber ordentlich absolviert. Könnte man, wie gesagt, doch was wäre damit geholfen? Die Songs, die Stimme, kurzum die Essenz des Ganzen bliebe und bleibt davon ja unberührt miserabel.

Abstraktion ist bei Kunstbetrachtung im allgemeinen und bei der Musikkritik im besonderen ohnehin ein gern genommener, gedankenarmer way out. Weil es ja letztlich um Konkretion geht, um die kleinste Nuance im Zusammenspiel musikalischer Momente. Mich erinnert das an den Schulhof, wo Hendrix-Gegner einzuräumen pflegten, daß er ja gut Gitarre spielen könne, aber das mit dem Singen, das solle er doch lieber lassen. Ein populärer Zeitvertreib war es in diesen Kreisen, unliebsame Elemente aus Musikstücken wegzudenken und durch geliebte zu ersetzen. Am Ende lief es dann auf Wunschformationen hinaus. Wenn Jagger singen würde zu Jimis Gitarre, dazu Jack Bruce am Bass und Watts am Schlagzeug: wäre das nicht toll? Nein. Würden die White Stripes als Backing Band Westernhagens pseudo-Anwandlungen erträglicher machen? Kaum. Er würde ja immer noch singen. Diesen Mist.

Vor 25 Jahren versuchte mir mal ein Bekannter bei einer gemeinsamen Zugfahrt, Kunze näherzubringen. Mit Deinem Trick. Hör doch mal nur auf die Gitarre, sagte er, die klingt an dieser und jener Stelle ein bißchen wie eine Rickenbacker, also nicht so weit von den Byrds entfernt, das müßte Dir doch gefallen. Tat es nicht. Nicht weil die Gitarre nicht nach den Byrds klang (das auch), nicht einmal deshalb, weil Kunzes notorisches Konsonantengeklapper und seine dussligen Lieder eh alle angenehmen Sounds zunichte gemacht hätten, sondern weil Musik keine schnöde Addition einzeln bewertbarer Elemente ist, vielmehr diese integriert und nur zusammen wirkt. Und so wie ein grauenhaftes Drehbuch jeden Film kaputtmacht, und wäre die Kameraführung noch so beeindruckend, machen miese Songs und verkrampfter Gesang auch dann ein Album zur Zumutung, wenn die Begleitmusiker locker-routiniert spielen. Soviel zu Deiner hypothetischen Frage, nebst Ausschweifungen (sorry).

Zu den dämlichsten Beiträgen, die ich das Missvergnügen hatte, im Forum lesen zu müssen (neben solchen Idiotien wie „Country ist reaktionär“ oder „Johnny Cash sang Schlager, bevor ihn Rubin rettete“), gehört fraglos die Unterstellung eines Users, es würde mit zweierlei Maß gemessen, und zwar im Zusammenhang mit irgendeiner Schmiere von Ich + Ich oder Rosenstolz oder so (tut nichts zur Sache). Würde dieser Song nicht deutsch gesungen und würde er von einer „angesagten“ britischen Band gespielt, so der Einfaltspinsel, dann würden die Bewertungen anders ausfallen. Meiner Treu, und wäre Heino 1919 als Albino im Delta auf die Welt gekommen und hätte das Gitarrespielen von Charley Patton gelernt, würde wohl mancher die resultierenden Schallplatten ein wenig anders hören als „Schwarzbraun ist die Haselnuss“. Cela suffit.

Nachtrag: Nur aus Interesse, um Deine erstaunlich positive Bewertung besser verstehen zu können: hieltest Du mal große Stücke auf den Musiker Westernhagen (und warum)?

--