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ReinoEigentlich sollte jedem, der sich mit Satire beschäftigt, die Stoßrichtung des Gernhardtschen Sonetts klar sein: nämlich nicht das Sonett, sondern die abgefuckte Sprache des Kritikers. Wenn es denn überhaupt eine Stoßrichtung gibt. In erster Linie geht es um den komischen Kontrast von Form und Sprachniveau. Wer sich allerdings in seiner Ablehnung der Sonettform bestätigt fühlt, hat echt irgendwas nicht gerafft.
Einen schönen Kontrast gibt es auch zwischen Sprache und Titel des Gedichts – der Titel spielt ja auf die Suhrkamp-Kultur der Zeit an (bei diesem Verlag sind viele „Materialien zu…“ Schriftstellern oder einzelnen Werken erschienen). Der komische Effekt des Gedichts hat mehrere Aspekte, die hier schon genannt worden sind: den Kontrast von „hoher“ Form und vulgärer Sprache (literarische Tradition vs. Szenejargon) und den Widerspruch, das Sonett in Sonettform zu verabscheuen. Diese Methoden, die hier kombiniert verwendet werden, kommen bei Gernhardt auch getrennt vor.
So wird in dem Gedicht „Frage“ ein Selbstwiderspruch zwischen Form und Aussage in Szene gesetzt:
Kann man nach zwei verlorenen Kriegen,
Nach blutigen Schlachten, schrecklichen Siegen,
Nach all dem Morden, all dem Vernichten,
Kann man nach diesen Zeiten noch dichten?
Die Antwort kann nur folgende sein:
Dreimal NEIN!
Die Pointe wird dadurch möglich, dass die Frage scheinbar ernst daherkommt – als Leser kennt man ja die Diskussion, ob nach Auschwitz noch ein Gedicht sich schreiben lasse.
In „Spätsommertag (15.9.79)“, einem Gedicht aus der Reihe „Der Sommer in Montaio. Stimmungsgedichte“, erinnern nur die letzten Zeilen jeder Strophe an das Sprachniveau, das man gewohnt ist (von Rilke beispielsweise), wenn es um „Tod und Leben/Die Zyklen der Natur“ geht; der Rest ist wieder Jargon:
Nun ist der Wein bereits am Sichverfärben.
Die ersten Blätter lappen leicht ins Gelbe.
Die Sonne hält voll drauf. Exakt dieselbe,
die erst ihr Grünen sah, sieht nun ihr Sterben.
Und dennoch wäre es echt schwach zu glauben,
den ganzen Terror könne man vergessen.
Blattmäßig läuft nichts mehr. Gebongt. Stattdessen
schwillt neues Leben, ach, zu prallen Trauben.
Schließlich gibt es bei Gernhardt auch die Sonettform selbst, ganz ohne Sinn, nur zum artistischen Vergnügen (mir gefällt auch, wie hier das tote Bild vom „Wortschwall“ neu belebt wird):
Wortschwall
Erst tropft es Wort für Wort. Dann eint ein Fließen
Solch Tropfen in noch ziellos vagen Sätzen,
Die frei mäandernd durst’ge Ganglien netzen,
Aus welchen wuchernde Metaphern sprießen
Und wild erblühn. Und sich verwelkend schließen,
Nun Teil der Wortflut, wenn auch nur in Fetzen,
Das will vermengt zur Sprachbarriere hetzen,
Um sich von Satz zu Absatz zu ergießen,
Bis tief ins Tal. Dort füllen Wortkaskaden
Ganz ausgewaschne, sinnentleerte Becken,
In welchen doch seit alters Dichter baden.
Daß dies Bad sinnlos ist, kann die nicht schrecken:
Ein Wortschwall reicht, um die maladen Waden
Mit frischer Schreit- sprich Schreiblust zu begnaden.
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To Hell with Poverty