Re: Gute Texte – mit Begründung!

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tolomoquinkolom

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Herr RossiMan könnte eine ganze Reihe Shangri-Las-Texte zitieren, wobei einige auf dem Papier vermutlich und ohne die Interpretation und Inszenierung wohl weniger eindrucksvoll sind (z.B. I Can Never Go Home Anymore). Insgesamt halte ich es für problematisch, Poptexte aus ihrem musikalischen Kontext zu lösen.

Klar, die getrennte Betrachtung von Text und Song ist ein wenig unfair, da die jeweilige Entstehung sich nahezu stets auf den anderen Teil bezieht; egal ob zuerst Text oder Song entstanden. Andererseits gibt es viele Songtexte, die auch von ihrer Präsentationsform losgelöst eine enorme, auch literarische, Stärke entwickeln. Ob sie dadurch ihren Pop-Charakter verlieren, wäre eine interessante Frage. Natürlich ist in dieser Betrachtung auch von Belang, wie von den Vortragenden geschriebener Text umgesetzt wird. In LEADER OF THE PACK (auch bei I CAN NEVER GO HOME ANYMORE) stehen den gesungenen auch gesprochene Passagen gegenüber, die in reiner Textform nicht diese Wirkung entfalten. Ist es das, was Du mit der Inszenierung ansprichst?

Eigentlich das einzige Brel-Stück, das ich kenne und das mir gefällt. Da aber „le moribond“ vermutlich „der Totgeweihte“ heißt und auf den antiken Gladiatorengruß verweist, passt die musikalische Umsetzung durchaus. Die Aussage des Textes ist auch eine ganz andere, wenn ich es recht verstehe, eher ein „kein Grund, traurig zu sein“. „Seasons In The Sun“ ist dagegen – todtraurig. Auch ein bißchen selbstmitleidig.

Okay. “Die Totgeweihten grüßen dich” ist auch eine Lesart. Ob Brel beim Texten in diese Richtung dachte, weiß ich nicht. Für mich hat der Sterbende eher etwas Trotziges, wobei ich diese Haltung wiederum eher für eine nicht unsympathische Schwindelei halte, um der Ehefrau, den Angehörigen, diesen Abschied zu erleichtern. In Wirklichkeit hängt auch der Protagonist des Songs an seinem Leben; der Text macht das schon deutlich. Allerdings kann sich Brel die autobiographische Anspielung auf die untreue Ehefrau, trotz großer Liebe, nicht ganz verkneifen.

Terry Jacks’ SEASONS IN THE SUN ist eine Annäherung an den Brel-Text, aber nicht unbedingt eine wortgetreue Übersetzung, wenngleich viele Bilder und auch einige Bezüge erhalten bleiben. Aus den Zeilen die z.B. direkt die Ehefrau betreffen (in etwa: “goodbye, my wife, I loved you well” und “but I’m leaving for the flowers with my eyes closed, my wife, because I closed them so often”) macht das Ehepaar Jacks “goodbye, Michelle, my little one” bzw. “flowers everywhere”. Nur oberflächlich wird hier der Song dadurch etwas unverbindlicher, denn die von Terry Jacks besungene Michelle ist niemand anderes, als Brels erste Ehefrau Miche.

Das von Dir genannte (bisschen) Selbstmitleid erkenne ich in SEASONS IN THE SUN nicht. Ich sehe eher etwas wie die melancholische Erinnerung an schöne Momente in einem zu kurzen Leben und – das schon – eine gewisse Traurigkeit darüber, vor der Zeit gehen und geliebte Personen zurücklassen zu müssen. Die vielleicht romantisierende Version von Terry Jacks (bzw. von Nirvana oder Black Box Recorder) geht mir viel näher, als jene von Brel. Kann sein, dass da etwas in mir ist, das mich auch veranlasst den Film LOVE STORY sehr zu mögen (obwohl es dabei nie ohne Taschentücher geht :-)).

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