Re: Gute Texte – mit Begründung!

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Und deshalb will ich versuchen, zu begründen, warum ich im Gegensatz zu anderen hier (denen ich nicht zu nahe treten will!) „Kinder“ nicht für einen guten Text halte:

1. Er lebt von einer einzigen Grundidee, der ich mich natürlich anschließen kann, die mir aber banal vorkommt: Kinder sind unschuldig, kostbar und schützenswert.

2. Diese Idee wird anhand verschiedener Körperteile ziemlich mechanisch und überraschungslos durchdekliniert.

3. Ich habe nichts gegen einfache Sprache in Songtexten, ich brauche nicht dauernd große Metapern, im Gegenteil, die geniale Lakonie in vielen Randy-Newman-Texten empfinde ich als große Kunst. Aber der Kinder-Text kommt mir nicht bloß einfach vor, sondern grobschlächtig. Beispiel: eine grammatikalisch böse holpernde Zeile wie „könn sie sonst nicht gehn“.

4. Ich habe mir überlegt, ob das ein Stilmittel sein könnte – sozusagen ein Lied aus der Perspektive eines Kindes, in einfacher, bewusst unbeholfener Kindersprache (in diese Richtung zielt der oben zitierte tolle Lyle-Lovett-Text). Aber dann passen Zeilen wie die seltsam steife Erwachsenenwendung „und ihr erlaubt“ überhaupt nicht (sie kommt mir sowieso vor wie nur um des mühsamen Reimes auf „taub“ willen dazwischengezwängt).

5. Eine Zeile wie „sind so kleine Seelen, offen und ganz frei“ löst bei mir Klischee-Alarm aus. Auch hier: nichts gegen Klischees! Das hier schon zitierte You’re a big girl now von Dylan gewinnt seine Kraft zu einem guten Teil aus dem grandiosen Einsatz abgegriffener Sprichworte, Bauernregeln, Binsenweisheiten. Bloß schmerzt es mich, wenn jemand derart Vernutztes wie „Kinder haben offene und freie Seelen“ einfach so hinstellt, als Statement.

6. Insgesamt fehlt mir da jeder doppelte Boden, jeder Zwischenton. Kein Platz für Deutungsspielräume. Das Lied hat genau eine Dimension. Und Ende. Die Idee von Alex, dass der Text eine getarnte Anspielung auf die politischen Verhältnisse in der DDR sein könnte, ist zwar nicht uninteressant, macht das Ganze für mich aber auch nicht viel überzeugender. Das empfände ich als recht plattes allegorisches Verfahren, das seinerzeit berechtigt gewesen sein mag, aber den Test der Zeit eben nicht besteht.

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