Re: It’s the song, not the singer? Moral und Musik

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icculus66

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Daniel_BelsazarDa scheint aber doch eine erhebliche Missdeutung von Adorno vorzuliegen. Das besagte Zitat lautet „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen“ – „Falschen“ wohlgemerkt großgeschrieben, also im Sinne von „in dem Falschen“. Und damit ist nicht etwa irgend ein indivudelles Leben gemeint, sondern der gesamte gesellschaftliche Zusammenhang des von Adorno zumindest zeitweise so verstandenen Spätkapitalismus. Dieser konstituiert genau das „Falsche“ – unter anderem mit der Bewußtseinsindustrie auch das falsche und natürlich notwendig ideologische Bewußtsein -, das alles durchdringt und umgibt und in dem eben grundsätzlich kein richtiges Leben möglich ist – und zwar für niemanden, vollständig unabhängig von seiner gelebten Sittlichkeit.

Individuell-psychologisch betrachtet drückt sich in dem Zitat wohl auch eine tiefe Verzweifelung darüber aus, dass das persönliche Leben in den falsche Zusammenhängen eben nie „richtig“ ist und es auch nie sein kann. Egal welchen Abzweig man auch wählt, am Ende steht eine Sackgasse. Das Zitat steht mithin auch für den endgültigen Verlust der Utopie, die als Gegenentwurf unmöglich geworden, und damit zugleich für den Triumph der Totalität des Falschen. Jeder Gegenentwurf zum Bestehenden, das besagt es nämlich ganz wesentlich, ist bereits wieder Teil des Falschen, weil in ihm geboren und von ihm geprägt und abhängig. Nicht umsonst heißt Adornos Hauptwerk „Negative Dialektik“. Meist sind das nicht gerade einfach nachzuvollziehende Denkfiguren, die er da entwickelt.

Lange Rede, kurzer Sinn: Du hast das Zitat komplett falsch verwendet, es passt wirklich nicht zu dem, worum es dir geht.

Du solltest dich vielleicht etwas zurück halten. In #18 (Asyl für Obdachlose)
heißt es: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ (Minima Moralia).
Der viel bessere Satz steht etwas weiter vorne: „… es gehört zur Moral,
nicht bei sich selber zu Hause zu sein.“

Und in #29 (Zwergobst) lesen wir: „Noch der armseligste Mensch ist fähig,
die Schwächen des bedeutesten, noch der dümmste, die Denkfehler des
klügsten zu erkennen.“

Gute Nacht!

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Free Jazz doesn't seem to care about getting paid, it sounds like truth. (Henry Rollins, Jan. 2013)