Startseite › Foren › Die Tonträger: Aktuell und Antiquariat › Replays: Neuauflagen, Deluxe- und erweiterte Editionen › The Rolling Stones Remaster 2009 › Re: The Rolling Stones Remaster 2009
Nachfolgend ein netter Artikel aus der Stuttgarter Zeitung vom letzten Freitag.
Schattenplätze im sonnigen Exil
Jan Ulrich Welke, veröffentlicht am 14.05.2010
Stuttgart – Villefranche-sur-Mer, Sommer 1971. Direkt an der Côte d’Azur, auf halbem Weg zwischen dem mondänen Nizza und dem noch mondäneren Monte Carlo, thront über dem Hafen die Villa Nellcôte. Hier hat sich der Gitarrist Keith Richards für zehntausend Pfund pro Monat eingemietet, hier verpulvert er wöchentlich tausend Pfund für Alkohol und zweitausendfünfhundert für Drogen. Der Schriftsteller William Burroughs ist häufig, der Dealer „Spanish Tony“ Sanchez fast täglich zu Gast an diesem „schattigen Ort für sonnige Gemüter“, als den Graham Greene ihn beschrieb und an dem die Rolling Stones die Exzesse ihres Lebens feierten.
Im Keller der Villa, heißt es, habe die Gestapo einst Verhöre durchgeführt, 1971 steht darin ein kleines Tonstudio, betrieben – da die Versorgung der Villa zu schwach war – mit dem Strom der nahen Eisenbahnlinie, die heimlich angezapft wurde. Tage- und nächtelang haben sich die Stones in diesen Keller zurückgezogen, hier entstand das im Mai 1972 veröffentlichte Album „Exile on Main Street“.
„Es ist ein bisschen überschätzt, um ehrlich zu sein“, sagte Mick Jagger in den neunziger Jahren. Dem Sänger waren – im Vergleich zum Vorgänger und Nachfolger – auf dem Album zu wenige Hits. Diese Einschätzung überrascht. Erstens, weil der Song „Tumbling Dice“ zum Kanon der Rolling- Stones-Klassiker zählt und das von Keith Richards gesungene „Happy“ jahrzehntelang fester Bestandteil ihrer Konzerte war. Zweitens, weil das Vorgängeralbum „Sticky Fingers“ mit „Brown Sugar“ und „Sister Morphine“ auch nur zwei Evergreens enthält und der gemeinhin als blass bewertete Nachfolger „Goats Head Soup“ in „Angie“ nur einen einzigen. Drittens schließlich, weil sehr viele Fans dieses Doppelalbum für das beste Werk der Stones überhaupt halten, zumindest aber, weil kaum jemand der These widerspricht, dass es künstlerisch ihr aufregendstes ist.
Die wildesten Exzesse ihres Lebens
Mick Jagger mag es vielleicht deshalb nicht besonders, weil es überdeutlich Keith Richards‘ Handschrift trägt – und vor allem wohl, weil sein Gesang in den Hintergrund gemischt wurde. Jetzt hätte es die Gelegenheit gegeben, diesen vermeintlichen Aufnahmefehler zu korrigieren. In diese Falle tappt der Mastering-Ingenieur Stephen Marcussen auf dem am Freitag als Digital Remaster bei Universal erscheinenden Album aber nicht, er ist erfahren genug zu wissen, dass dies ein illegitimer Eingriff in die ursprüngliche künstlerische Intention wäre. Dennoch enttäuscht das Remaster von „Exile on Main St“ auf ganzer Linie, was verwundert, gilt Marcussen doch als alter Hase: seine Referenzenliste – von Madonna bis zu Bruce Springsteen – liest sich eindrucksvoll.
Den rohen Charakter der 18 Stücke mag er bewahrt haben, ihr ohnehin schon wenig ausgeprägtes Bassfundament hat er jedoch regelrecht amputiert. Die dynamische Blässe, der sehr scharfe Klang sind in allen Stücken unüberhörbar, den traurigen Tiefpunkt markiert „I just want to see his Face“. Den diskografischen Angaben zufolge haben in diesem Lied mit Bill Wyman, dem zum Bass greifenden Mick Taylor und dem renommierten Sessionmusiker Bill Plummer gleich drei Musiker Bass gespielt, doch selbst auf einer hochwertigen Anlage klingt das Stück nun wie aus einem Kofferradio.
Wer auf eine substanziell verbesserte Klanggüte oder gar eine deutlichere räumliche Abbildung hofft, wird von diesem Remaster-Album enttäuscht sein. Dennoch hat es seinen Reiz. Er liegt in der Dreingabe: Auf einer zweiten CD finden sich zehn bisher unveröffentlichte Songs, entstanden bei den Sessions zu „Exile on Main Street“. Zwei von ihnen, „Loving Cup“ und „Soul Survivor“, sind nur Alternativversionen der bekannten Albumtracks – bei „Loving Cup“ ist das melodieführende Piano durch eine schneidende Leadgitarre ersetzt, „Soul Survivor“ wirkt mit der zurückgenommenen Instrumentierung in dieser Variante milder als das Albumstück.
Überbordende Kreativität
Aber warum haben es die restlichen acht, bei der Session entstandenen Lieder nicht auf das Album geschafft? Da die Stones nicht unter Veröffentlichungsdruck standen – die auch kommerziell erfolgreiche LP „Sticky Fingers“ erschien erst ein Jahr zuvor – und sich die Band für ein mit 67 Minuten Spielzeit üppiges Doppelalbum entschieden hat, darf man überbordende Kreativität unterstellen. Und in der Tat: das Eröffnungsstück „Pass the Wine (Sophia Loren)“ mit seinen tapsenden Bassfiguren und den ausgelassenen Backing Vocals, der zurückgelehnte Barblues „I’m not signifying“ oder die Ballade „Following the River“ mit ihrem kraftvollen Chorus – all diese Songs sind weit davon entfernt, Ausschussmaterial zu sein. Lediglich der offenbar namenlos gebliebenen, gesanglosen Miniatur „Title Five“ merkt man den polternden Jamsession-Charakter an.
Wenn man dieses Stück sowie die beiden Alternative-Takes abzieht, bleiben sieben Songs, tatsächlich also ein fast vollwertiges Rolling-Stones-Album mit unbekannten Nummern, die jetzt erstmals zu hören sind. Für Freunde der Band ist diese Doppel-CD fast schon ein Pflichtkauf, sie fügt der zwar reichlich umnebelten, aber nahezu verschwenderisch produktiven Schaffensperiode der Stones ein interessantes Kapitel hinzu.
Gewiss hätte man auch gerne das Geheimnis gelüftet, nach welchen Kriterien die Auswahl verlief. Liner Notes gibt es in der Standardversion der CD aber keine, lediglich die Deluxe-Variante zum unverschämten Preis von rund hundert Euro bietet ein ausführliches Booklet und eine dreißigminütige DVD mit Material des kürzlich fertiggestellten Films „Stones in Exile“. Diese DVD – das lässt den Deluxe-Preis noch dreister wirken – erscheint schon in vier Wochen, die Wartezeit darauf kann sich der geneigte Liebhaber mit Robert Greenfields Buch „Exile on Main Street. Ein höllischer Sommer mit den Rolling Stones“ vertreiben – und natürlich mit dieser bemerkenswerten Neuentdeckung.
--
I'm pretty good with the past. It's the present I can't understand.