Re: Selig – Und Endlich Unendlich

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Und endlich unendlich liegt der Himmel frei.

Es war ihm zuviel geworden am Ende. Glückselig wie die reichen Kinder am Strand wollte Plewka Scherben wie Perlen aus dem Sand heben, doch ach, der schnelle Ruhm. Wo Cobain eine Courtney eben nicht zur Seite stand – mit den bekannten Folgen – hatte Plewka seine langjährige Dauerfreundin, die ihn an den da schon nicht mehr vorhandenen langen Haaren nach Schweden und raus aus dem Fokus zehrte. Dadurch ging er eben nicht vor die Hunde. Selig freilich tat es schon und darüber war man eben so gespaltener Meinung, wie überhaupt über die ganze Band stets ein heftiger Diskurs geführt wurde. Da hatten fünf zweifelsfrei talentierte, seit Teenagertagen in diversen Bands geschulte Musiker aus Hamburg und der Peripherie den direkten Weg genommen, sich in dieser Formation eben nicht jahrelang durch die Clubs und über kleine Bühnen gequält. Nein, man lief sich über den Weg, fand Gefallen aneinander, schrieb eine handvoll Demosongs, landete mit denen in null komma nix bei Epic, schon stand das erste Album in den Läden und bald darauf in den Charts. Klar war viel Zufall mit im Spiel. Man schrieb das Jahr 1993, Grunge stand in voller Blüte, die Talentscouts suchten auf Teufel komm raus und dass der frisch auf Sendung gegangene Musiksender VIVA gleichfalls nach aktuellen deutschsprachigen Musikvideos suchte, war alles andere als abträglich. Selig zündeten durch und das rief auch Neider auf den Plan. Für die Hamburger Schule muss es der blanke Hohn gewesen sein. Selbst von der Masse eher am Rande wahrgenommen fassten diese Niemande alle Aufmerksamkeit ab. Und wie die schon daher kamen: breitbeinige Vorortrocker mit Hippieeinschlag! „Sie hat geschrien“, war das nicht eine offenkundige Vergewaltigungsfantasie? War sie nicht, aber auch Cobain sah sich ob seines „Rape me“ plötzlich wüsten Beschimpfungen aufgebrachter Feministen ausgesetzt. Mir waren Selig damals zunächst ebenfalls suspekt, was aber an einer guten Freundin lag, für die Plewka „eine sowas von geile Sau“ war. Danke, ich bin raus! Mich haben sie dann mit dem zweiten Album namens „Hier“ gekriegt. Bis heute ein Biest, das an vielen Stellen leuchtet, an vielen Stellen aber auch Ausdauer verlangt. Schon während der Aufnahmen zu „Blender“ im Jahr 1997 kam das Aus, auch wenn es erst 1999 offiziell verkündet wurde. Die Legende will, dass Plewka das Studio in New York verlies um Zigaretten zu holen und nicht mehr zurückkehrte. Ganz so war es nicht, aber er war definitiv draussen. Eine Tour gab es schon nicht mehr.

Danach versuchten sich die einzelnen Musiker in neuen Bands, mitunter auch gemeinsam. Mehr (Kung Fu, Zinoba) oder weniger gelungen (TempEau) war ihnen eines gemeinsam: notorische Erfolglosigkeit. Selbst Plewkas Soloscheibe „Zuhause, da war ich schon“ floppte – zu Unrecht – an den Kassen. Dabei stellt sie vielleicht das fehlende Bindeglied zwischen „Blender“ und „Und endlich unendlich“ dar, mit dem Selig nun nach offiziellen 10, tatsächlich aber eher 12 Jahren zurück sind. 12 Jahre, die ihre Spuren hinterlassen haben, auch wenn jetzt allen Ortes verlautbart wird, sie wären noch ganz die Alten. Doch macht nicht zuletzt Plewka mit seiner unverkennbaren Stimme und seinen Texten einen Großteil dessen aus, was als typisch Selig gilt und da muss man schon genauer hinhören. Die Scherben am Strand werden noch immer eingesammelt, ganz so, wie es die reichen Kinder tun. Doch diesmal um sie ins Glück zu geben und zu verschwinden! Plewkas Texte ufern nicht mehr so aus, erzählen wieder Geschichten wie seinerzeit beim Debut. Zuletzt auf „Blender“ wurde es mitunter doch arg anstrengend zwischen all den in die Zeit geseierten Zeilen. In „Auf dem Weg zur Ruhe“ wird es fast schon politisch. Plewkas umstrittenes Engagement um und für Rio Reiser hat wohl doch etwas abgefärbt. Die Klimakatastrophe steht bevor, das Öl ist längst alle, was bleibt da noch, außer dem Ende mit Geduld entgegen zu sehen? „Wir werden uns wiedersehen“, wahrscheinlich die nächste Single, wird von Konzertbesuchern schon etwas voreilig als eingelöstes Versprechen der Reunion angesehen. Doch singt Plewka vielmehr von der einen Liebe, die man trotz allem, was passiert ist, innerlich mit sich herum schleppt und still auf ein Wiedersehen hofft. Darum wissend, dass dann vielleicht ein Wunder geschieht, oder eben doch nur alte Wunden aufgerissen werden. Um alte und neue Beziehungen geht es ohnehin viel auf diesem Album. „Ich fall in deine Arme“ und „Der schönste aller Wege“ geraten dabei stark an die Kitschgrenze und stehen für mich kurz vor dem Totalausfalls. Besser ist Plewka wenn er leidet. Das war schon bei „Ohne dich“ so und hier ist es diesmal „Ich dachte schon“. Ein Lied über das vergebliche Hoffen, die Erinnerungen an eine alte Liebe endlich gelöscht zu haben. Ein Lied zu dem, dass auch Neander an der Gitarre mal ungehemmt freien Lauf lässt, so wie seit „Hier“ nicht mehr. Bei „Die alte Zeit zurück“ scheint sich Plewka selbst auf die Schippe zu nehmen. Wer genauer hinhört, erkennt, dass es eventuell auch um jemanden geht, der damals, 1993, nicht mit auf den Selig-Zug gesprungen ist, lieber weiter im kleinen Kreis musikalisch herumfrickelte und sich heute im Suff die alte Zeit zurück wünscht. Gleichfalls in der oben genannten Hamburger Peripherie ansässig erschrak ich beim ersten Hören, denn vielleicht steht die CD vom Betroffenen mit seinem „nutzlosen Freund“ in meinem Regal nicht weit von Selig entfernt. Ich kann mich aber auch irren. Der Schreck sass jedenfalls. „Traumfenster“ ist der Ausklang des Albums, wie man ihn mit „Fadensonne“, „So träum ich“ und „Unterm Regen“ von den anderen Alben gewohnt ist.

Was bleibt? Die Freude über ein ungeahntes, sehr gelungenes Album, welches noch so manche Runde bei mir drehen wird. Es gibt von mir ****

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Ich brachte meine Vergangenheit im Handgepäck mit. Ihre lagerte irgendwo im Container-Terminal. Als sie ging, benötigte ich einen Seemannssack.