Re: Jazz Open Stuttgart 2009

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masureneagle

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Donnerstag, 16. Juli 2009
GRACE JONES
Messe Stuttgart (Flughafen), Halle 1

Als sich im Herbst 2008 die durch ein im Juni auf YouTube aufgetauchtes, neues Video genährten Spekulationen über ein neues Album von Grace Jones weiter verdichteten und schließlich bewahrheiteten, war die Sensation perfekt: 19 Jahre nach ihrem letzten Studioalbum gelingt der Diva mit „Hurricane“ die größte Überraschung des Jahres 2008. Auf einen Schlag war sie wieder in aller Munde: große Storys und ausführliche Interviews in Die Zeit, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Die Welt, der Frankfurter Rundschau und allen großen Tageszeitungen unterstrichen die Bedeutung dieser völlig unerwarteten Veröffentlichung, das führende Musikmagazin SPEX widmete ihr die Coverstory. Sofort nach Erscheinen enterte das Album die Charts in England, Deutschland, Österreich und der Schweiz; für nicht wenige ist „Hurricane“ das wichtigste Album 2008. Dabei ist „Hurricane“ nichts weniger als ein Comeback: „Ich bin doch nicht gestorben und kehre wie Lazarus zurück auf die Erde“, gab Jones in der Welt am Sonntag zu Protokoll. Auf ihrem aktuellen Album gelingt ihr das Kunststück, gleichzeitig völlig gegenwärtig und wie aus der Zeit gefallen zu wirken: „Hurricane“ ist Rückblende wie Vision, verbindet heutige Produktionsstandards mit der bestechenden, zusammen mit ihrem damaligen Lebensgefährten Jean-Paul Goude entwickelten Disco-Wave-Ästhetik, die sie Anfang der 80er Jahre zu einer absolut singulären Erscheinung gemacht hatte. Die drei Alben, die als ’Compass-Point’-Trilogie zusammen mit Goude entstanden und in die Geschichte der Popmusik eingegangen sind, stellen den zentralen Teil ihres Oeuvres dar: „Warm Leatherette“, „Nightclubbing“ und „Living My Life“ erschienen innerhalb von lediglich zwei Jahren – zwischen 1980 und 1982 – und sind alle im legendären Compass-Point-Studio von Chris Blackwell in Nassau, Bahamas entstanden. Die dort mit einem festen Team legendärer Studiomusiker wie dem unbestechlich präzisen jamaikanischen Rhythmusduo Sly & Robbie, Keyboarder Wally Badabou, Gitarrist Mikey Chung und Perkussionist Uzziah Thompson unter dem Produzenten-Duo Chris Blackwell und Alex Sadkin entstanden Songs waren größtenteils zwar Coverversionen, wurden aber auf der Grundlage des jamaikanischen Dub-Verfahrens so verfremdet, dass sie sich häufig in ihr Gegenteil verkehrt wiederfanden – der Rest ist Geschichte: „Warm Leatherette“ (Daniel Miller), „Private Life“ (Chrissie Hynde), Nightclubbing” (Iggy Pop), “Love Is The Drug” (Andy MacKay, Bryan Ferry) und „I’ve Seen That Face Before (Libertango)” (Astor Piazzolla) sowie eigene Titel wie „My Jamaican Guy“, „Pull up to the Bumper“ oder „Nipple To The Bottle” sind zeitlose Meilensteine der Dancefloor-Kultur geworden, die das Angesicht dieser Musik irreversibel verändert haben und noch heute zum unverzichtbaren Repertoire der globalen DJ-Gemeinde zählen. Der dekonstruktivistische Ansatz erstreckte sich dabei nicht nur auf ihre Musik, sondern auf die komplette Person Grace Jones. Die Brickett-Frisur von damals ist nur die nächste Stufe einer gestalterischen Beschäftigung von Grace Jones mit ihrer körperlichen Erscheinung gewesen, die weit früher begonnen hat: Mitte der 70er Jahre war die gebürtige Jamaikanerin zunächst als Model in Paris erfolgreich und auf dem Cover zahlreicher internationaler Magazine wie Vogue oder Elle zu sehen, bevor sie im New York der beginnenden Disco-Ära auf Andy Warhol trifft. Durch diese Erfahrungen ästhetisch geschult, erkennt sie die Wichtigkeit des Imaginären, einer visuellen Image-Bildung im Pop-Diskurs der 80er Jahre. Als Echo ihres Abschieds vom professionellen Model-Business, wozu sie sich die Haare und Augenbrauen abrasiert hatte, steht die Inszenierung ihres Kopfes im Mittelpunkt dieser Strategie: als strenge Silhouette, als gefährlicher Clown, als männermordendes Raubtier, als Femme fatale, als hedonistische Heilige. Hüte sind weit mehr als Kopfbedeckungen für Grace Jones. Diese Frau ist tatsächlich ein Gesamtkunstwerk: Helmut Newton und Robert Mapplethorpe fotografierten sie, Keith Haring bemalte ihren Körper. Wenn es den Begriff „extravagant“ noch nicht gegeben hätte, man hätte ihn für Grace Jones erfinden müssen. Die Erotik ihrer artifiziell-unterkühlten Haltung ist patentwürdig und bis heute unerreicht: sie kombiniert Coolness mit dem Gestus einer sexuell aggressiven Frau, für die es, etwa in Eartha Kitt, zwar durchaus Vorbilder gab, die aber durch die Attitude von Grace Jones allesamt weit übertroffen wurden. Parallel dazu etablierte sie sich folgerichtigerweise auch als Schauspielerin: Unvergessen ihre Rolle als May Day im James-Bond-Klassiker „Im Angesicht des Todes“ („A View to a Kill“) von 1985. Sie hat für Werbespots Autos verspeist und TV-Moderatoren vor laufenden Kameras verprügelt. Auf ihrer Homepage (www.theworldofgracejones.com) gibt es konsequenterweise keine hierarchische Struktur und lediglich ein Produkt: Grace Jones. Indem man sich durch eine Vielzahl gleichrangiger Pages mit je einem Bild und einer kurzen Notiz klickt – manchmal Zitate von Mitstreitern wie Andy Warhol, Jean-Paul Goude oder Chris Blackwell, meist aber erstaunlich offene und tiefe Reflektionen und Erinnerungen von Grace Jones selbst – entsteht aus diesen Facetten das sehr intensive Bild einer Frau, der Selbstbestimmung über alles geht. Die unerschütterliche Überzeugung, dass eine Identität etwas ist, das man sich durch und durch selbst erschaffen kann, ist die tiefste gemeinsame Grundlage aller ihrer Botschaften. Diese Kompromisslosigkeit zeichnet nicht nur ihren Output aus, sondern ist in der Erzeugung eines Paradoxons, der überlebensgroßen, hyperrealen Kunstfigur Grace Jones als androgyne Amazone, der Kern ihres gesamten Werks. Dabei bestreitet sie nicht, gesellschaftlich und familiär determiniert zu sein – im Gegenteil: sie „verwandle sich auf der Bühne in all die männlichen, gewaltbereiten Autoritätspersonen ihrer Kindheit“, steht auf ihrer Homepage zu lesen. Das ist ihre Methode und der innovative Stellenwert ihrer Karriere, ihr Platz in der Geschichte der Pomusik: die eigenmächtige Aneignung der sozialen Bestimmungen, um sie mittels Überaffirmation zu einer Waffe zu schmieden, die den gesamten Mensch erfasst und schärfer ist als jede Kritik. Mit dieser einzigartigen Haltung war sie auf konzeptioneller Ebene eine essentielle Vordenkerin der 80er Jahre. Sie „verabscheue jegliche Struktur“, lässt sie weiter wissen. Ebenso die Kontinuität: es gehe ihr um Wandel und Brüche: „I’m the one for change…I go through three year cycles at the end of which I sweep everything out of my life and start over.“ Das Fremde, das Andere ist ihr Thema, sowohl innerhalb als auch außerhalb unserer menschlichen Existenz. Sie feiert die Widersprüchlichkeit der Kontingenz in Dichotomien, indem sie eine Serie möglicher Ausgaben von Grace Jones produziert: Heldin und Verbrecherin, Liebhaberin und Denkerin, Sängerin und Träumerin, Mutter und Tochter, Objekt und Nomade, Mysterium und Celebrity, Disco und Punk, New York und Jamaika, Kind und Alien, Tier und Mineral, Mann und Frau, Wilde und Erhabene, archaisch und modern, Spiritualität und Maschine, romantisch und komödiantisch, fest und flüssig, kristalline Härte und samtene Oberfläche, Klarheit und Undurchsichtigkeit, konkret und abstrakt, Afrika und Europa, Star und Experiment, reflektiert und roh, unverantwortlich und großzügig, gesetzlos und fromm, religiös und provokativ, faktisch und fiktional, temperamentvoll und intim, abwesend und präsent, privat und öffentlich, vorher und nachher, stumm und laut, Vergangenheit und Zukunft, Wahrheit und Image, Realität und Reflektion, Körper und Spiegel, Bühne und Leinwand, Leben und Tod, Anfang und Ende – Grace und Grace. Die Stringenz, mit der sie diese Form von produktiver Schizophrenie als hochdisziplinierten Kontrollverlust auf ihre komplette Person und somit auch auf jeden Aspekt ihrer künstlerischen Produktion anwendet, ist auch auf „Hurricane“ wieder äußerst imponierend. Zusammen mit Ivor Guest hat Grace Jones neun neue Songs, die allesamt das Zeug zum Klassiker haben, produziert und sie mit alten Weggefährten wie Sly Dunbar und Robbie Shakespeare sowie Koryphäen wie TripHop-Mastermind Tricky, Afrobeat-Erfinder Tony Allen, Ed Baden-Powell, Adam Green und Brian Eno eingespielt. Der Opener „This Is“ beginnt mit einer klassischen Grace-Jones-Ansage: „This is my voice / My weapon of choice.“ Auf „Corporate Cannibal“ gibt sie erneut die „man-eating machine“. Und wer sonst könnte sich heutzutage noch eine derart hochfahrende Dramatik der Harmonien in einem Dancefloor-Hit leisten wie Jones auf dem Gospel-Reggae „William’s Blood“? Dagegen hat sie Balladen wie „I’m Crying (Mother’s Tears)“ und das die vorherrschende Darkness etwas aufbrechende „Well Well Well“ gesetzt. „Hurricane” ist ein überlebensgroßes Wechselbad der Emotionen und Leidenschaften, die Topografie des Begehrens ist auf dem aktuellen Album von Grace Jones eine Landschaft, deren Steilküsten von Achttausendern gebildet werden – ein derart offensichtlich reifes, epochales Meisterwerk, das selbst Die Zeit sich zu Hymen hinreißen ließ: „Spiegel sein, aber ein Spiegel aus Stahl: Das ist das Geheimnis dieser Frau, gegen deren Talent zur Ikone selbst Madonna wie eine verkleidete Kellnerin wirkt.“ Bereits zur Blütezeit von Disco ist Grace Jones ein Star – insbesondere in den Hot-Spots der Szene wie dem Gay-Club „Les Mouches“ und dem späterhin legendären Disco-Club „Studio 54“. Als sie mit Carmen D’Alessio die Location für das „Studio 54” besichtigte, fragte D’Alessio sie, ob sie der Opening Act sein möchte. Daraufhin produziert sie mit Tom Moulton, der als einer der Erfinder des Remix-Formats gilt, ihr Debütalbum „Portfolio“, das 1977 erscheint und mit „I Need A Man“ nicht nur ihren ersten Hit, sondern mit „La Vie En Rose“ bereits einen ihrer Evergreens enthält. Mit „Fame“ und „Muse“ folgen zwei weitere Alben im selben Stil, bevor 1980 die ’Compass-Point’-Phase einsetzt. 1985 erreicht sie, gemessen am Bekanntheitsgrad, den bisherigen Zenit ihrer Karriere: Das von Trevor Horn produzierte Album „Slave To The Rhythm“, auf dem ein Thema in acht Variationen zu hören ist, gilt als ihr kommerziell erfolgreichstes. Nach zwei weiteren Alben, diesmal zusammen mit Nile Rodgers (Chic) produziert, verschwindet sie in der Versenkung. „Hurricane“ knüpft nun direkt an ihre beste Phase an – ungefähr zur Zeit von „Nightclubbing“, dem Album, das von vielen als ihr einflussreichstes geschätzt wird –, ist nach diesem Meilenstein vielleicht ihr bislang bestes Album und, darin liegt der Aspekt des Neuen und der Weiterentwicklung, ihr persönlichstes: noch nie hat uns Grace Jones derartig tiefer Einblicke in ihr Privatleben und ihre Psyche gestattet wie auf „Hurricane“. Das komplette Album ist ihrem verstorbenen Vater gewidmet, auf „William’s Blood“ ist die Stimme ihrer Mutter zu hören, die autobiographischen Bezüge der Songtexte erzeugen erstmals eine weitere deutliche Resonanzebene. Aber auch der gewohnte, soziologisch transgessive Aspekt fehlt nicht: Im Video zu „Corporate Cannibal“ – dem erwähnten Vorboten auf „Hurricane“ – zeigt Regisseur Nick Hooker Grace Jones als rätselhaft verfremdetes Wesen zwischen Alien, Insekt und Monster: als Abrechnung mit ihrer ehemaligen Plattenfirma verwandelt sich Jones in den Kapitalismus selbst, ihr Bild ist in ständiger Formwandlung begriffen und dadurch ungreifbar wie Quecksilber – oder die entfesselten Kräfte des Kapitals. Schon immer hat sich Jones selbst stets in erster Line als Darstellerin, auch und gerade ihrer Musik verstanden: „In die Musik bin ich reingewachsen. Aber auf der visuellen Ebene war es immer leicht. Darin liegt meine wirkliche Stärke. Ich bin immer eine Schauspielerin gewesen. Ich habe meine Songs immer komplett verkörpert. Sogar, wenn ich sie nur im Studio gesungen habe.“ Nun ist die Königin der glamourösen Inszenierung eines konzeptionellen Minimalismus’ auf die Bühne zurückgekehrt und wurde bei den drei Stationen ihrer soeben beendeten Deutschland-Tour entsprechend gefeiert: „Nach wenigen Minuten strömten die Massen zur Bühne, kreischten und schrien. Zum Finale holte Jones einige Besucher zu sich nach oben, tanzte ekstatisch mit den Männern. Das einstige Bond-Girl scheint nichts von der früheren Energie verloren zu haben. Wie eh und je setzt Jones ihren stählernen Körper in Szene, weiß zu provozieren“, meldete die Nachrichtenagentur dpa. Für Die Welt berichtete Harald Peters: „Grace Jones präsentierte sich in absoluter Hochform…Mehr kann man nicht wollen.“ Auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung zeigte sich nachhaltig beeindruckt: „Auf dem Heimweg, das angestrahlte Tempodrom liegt bereits hinter einem, reißt in der Phantasie die Erde auf, und eine godzillagroße Grace Jones steigt aus dem Asphalt empor, das Vulkan-Dach des Tempodroms als Hut tragend, ein Heer aus tanzenden Menschen folgt ihr nach, wie sie, im Viervierteltakt stampfend, in die Berliner Nacht verschwindet. Es wäre, ganz ohne Übertreibung, an diesem Abend keine besondere Überraschung gewesen.“ Und die Frankfurter Rundschau kommentierte die zwingende Klasse ihrer Performance: „Sie ist keine Hexe, sondern wahnsinnig gut in Form.“ Im Rahmen der diesjährigen BW-Bank jazzopen kommt mit Grace Jones die visuellste Stimme der 80er Jahre nun erstmals nach Stuttgart.

http://www.jazzopen.com/index.php?id=92

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