Re: The Felice Brothers – Yonder Is The Clock

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go1
Gang of One

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Die Felice Brothers haben meine Erwartungen und sich selbst übertroffen und ihr bestes Album aufgenommen: Yonder is the Clock gefällt mir noch besser als Tonight at the Arizona. Besser als The Felice Brothers ist es sowieso: Das letzte Album hatte feine Höhepunkte (wie „Frankie’s Gun“), aber auch ein paar schwächere Songs und keinen rechten Zug als Gesamtwerk. Hier dagegen ist jeder Song unverzichtbar. Es ist auch gut, dass sie die Dixieland-Bläser wieder losgeworden sind, die dem Vorgänger einen musealen Anstrich gegeben haben. Für mein Empfinden haben die Felice Brothers jetzt ihr Meisterwerk vorgelegt, das Album, auf dem sie all ihre Stärken bündeln. Wenn ihr auch nur ein bisschen Interesse an amerikanischem Folk und Folk-Rock habt, dann müsst ihr dieses Album anhören. Ihr müsst einfach. Man kann die Band schon längst nicht mehr als Dylan-Epigonen abtun.

Die Felice Brothers wissen, worauf es ankommt: auf Gefühl und Leidenschaft. Ihre Balladen sind intensiv und ergreifend, ihre Stomper wild und ungestüm, so wie es sein soll. Die Balladen überwiegen hier. Die besten von ihnen sind groß angelegt und langsam und nehmen sich alle Zeit, die sie brauchen. Es ist ein erhebendes Gefühl, ihnen zuzuhören, obwohl die Themen des Albums meistens düster sind: Es geht um Tod, Verlust und Unglück (daneben aber auch um Musik, Tanz und Lebensfreude).

Ich will nur ein paar Songs herausgreifen: Am Opener „The Big Surprise“ bewundere ich, wie verloren und heartbroken er klingt und welch tolle Steigerung er hinlegt. „Penn Station“ ist musterhafter Folk mit einer Melodie zum Mitsingen und emotionalem Gesang. Das Beste daran: Der Track entführt uns zu einer wilden Feier – Füße stampfen auf dem Lehmboden; Harmonika und Fiddle treiben die Menge zur Raserei. Verzweifelt ausgelassen klingt auch „Memphis Flu“, das Traditional über eine Massenepidemie im amerikanischen Süden. In „All when we were young“ erinnert der Erzähler sich an seine glückliche Jugend und dann an die Kampfflugzeuge, die seine Stadt mit Bomben zerstört haben. In „Ambulance Man“ lässt uns der Regen frösteln; es ist eine Ballade, die sich langsam entfaltet, sich verdüstert, unheimlich wird – es dröhnt und dräut. „Sailor Song“ ist eine musikalische Überraschung in diesem Kontext: eine dunkle Tom-Waits-Ballade in Vollendung, naturgemäß ohne dessen charakteristischen Gesang, dafür passend mit Flüsterstimme dargeboten. „Boy from Lawrence County“ dagegen, über die Versuchung, den eigenen Freund wegen des Kopfgelds, das auf ihn ausgesetzt ist, in die Falle zu locken, ist einfach der beste Song, den Dylan nie geschrieben hat. Mein Lieblingstrack ist zur Zeit aber „Run Chicken Run“: eine musikalische Explosion, vorwärtstürmend, von Akkordeon und Fiddle getragen, von der Trommel getrieben, von Bläsern befeuert, wild und lebendig. Songs wie dieser erinnern daran, warum man so viel Zeit mit Musik verbringt: Das Leben wird intensiver.

Viereinhalb Sterne. Mindestens. Yonder is the Clock ist für mich jetzt schon eins der Alben des Jahres. Habe ich erwähnt, dass ihr es euch anhören müsst, falls ihr Folkfans seid?

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