Re: Labyrinths – Irrlichts Alben-Faves

#6938035  | PERMALINK

irrlicht
Nihil

Registriert seit: 08.07.2007

Beiträge: 31,402

Joy Division // Closer
Factory Records (1980)

1. Atrocity exhibition
2. Isolation
3. Passover
4. Colony
5. A means to an end
6. Heart & soul
7. Twenty-four hours
8. The eternal
9. Decades

„He used to fantasie about taking his own life, that romantic idea of dying young“

Es ist der 18.Mai 1980, als sich Ian Curtis mit Dreiundzwanzig in seiner Wohnung in Macclesfield erhängt und damit gleichsam auch die Band aus der nördlichen Seite Manchesters von der Bildfläche verschwinden lässt. Es ist eine eigentümliche Gegend mit ihren Warenhäusern, Kanälen, Bahnlinien und Straßen, die ins Nichts zu führen scheinen – „[…] there was still smog, rows and rows of terraced houses. It was black and claustrophobic“ wie sich Hock zurückentsinnt und dabei keinen Zweifel daran lässt, wie sehr Zeit und Umgebung im Wesen Joy Divisions verankert sind. Es scheinen Wohnblocks im Halblicht, die zu endlos wirkenden Gängen und nochmals mehr Türen führen, zu sein, die im schmalen Output der Band ebenso Gestalt annehmen wie dreckige Hinterhöfe, verrauchte Pubs, umzäunte Gärten, dunkle, vom Regen nasse Straßen und Dachterrassen, auf denen nur kalt der Wind weht.

„We were like kids in a sweetshop“
erinnert sich Steve Morris (Drums; 77-80); Es muss alles sehr schnell ins Rollen gekommen sein, wenn man den tragischen Ausgang der Historie, die kaum mehr als vier Jahre Bestand hatte, ins Gedächtnis ruft, was im Falle Joy Divisions regelrecht unumgänglich wird, vielleicht sogar zu schnell. Als sich Bernard Sumner (G) und Peter Hook (B) 1976 auf einem Punk-Gig, von den Sex Pistols geradezu infiziert, mit Curtis zusammenfinden (der ihnen mit großem „Hate“-Schriftzug auf dem Rücken des Militäroveralls direkt passend erscheint; „Ian just seemed like one of us“) – erstere hatten bereits im Vorfeld eine Annonce aufgegeben, um sich um einen brauchbaren Sänger zu bemühen, der das Duo Stiff Kittens ergänzen sollte -, dürfte keiner an den so bald kommenden und anhaltenden Erfolg geglaubt haben. Der ist rückblickend aber vielleicht gar nicht allzu unverständlich, bedenkt man, wie schnell sich mancher Trend dreht und wendet und zum Zeitgeist wird und letztlich jene Band, die Roh- und Schönheit, emotionale Fülle und gefühlstechnische Kargheit und Tristesse, schlicht diese kurze Sekunde, die noch gefühlt wird, bevor der Tod einsetzt, eigentümlich und packend, wie keine vor und nach ihr, präsentiert, vielleicht nicht gänzlich willkürlich zur Größe werden lässt, in einer Szene, die ihr aber nicht gerecht wird. Von Rock und Punk und Soul beeinflusst treibt es die beiden Herren an den Saiten in den North Salford Youth Club, während sich Curtis, der in Hesse, Sartre und Dostojewski ebenso vertieft ist, wie in Militärgeschichte, für The Velvet Underground begeistert, für Bowie, für Iggy Pop, für also mindestens ebenso Berauschendes, obschon es zuweilen verwunderlich ist, wie stimmig die maschinenhafte Rhythmussektion neben dem klaren, mahnenden Tenor bestehen kann. „None of us could play a note. So instead we decided to use our brains and intelligence to do something original. We learned to play within our limit. What we did was simple and powerful”.

Kurz vor dem ersten Auftritt am 29.Juni 1977 wird das Trio um Tony Tabac am Schlagzeug komplettiert, ehe man sich gleichsam entscheidet, die Band in Warsaw umzubenennen. Es folgen weitere Konzerte, die die Band letztlich an Tony „fucking cunt“ Wilson bringt, auf wessen Independent Label Factory Records sie schlussendlich unterschreibt und zum Silvesterauftritt gleichen Jahres das Kapitel Warsaw schließt, um Joy Division auf der Bildfläche erscheinen zu lassen. Es ist ein weiterer Anlass, nach jener ersten EP, mit dem trommelnden Hitlerjungen, der das Frontcover ziert, der Joy Division, wessen Name jene KZ-Häftlinge bezeichnet, die im Roman „The house of dolls“ (Ka-tzetnik 135633) zur Prostitution gezwungen werden, in leichten Verruf bringt, zumal NS-Symbolik, wie auch die Neigung manche Aussage sichtlich bewusst unausbeutbar zu gestalten, der Band nicht fremd scheint.

Aufnahmetechnisch vorangegangen war zunächst bereits die „An ideal for living EP“ (1978), die im Eigenvertrieb unter Enigma erschien, es folgen weit über 70 Konzerte, zumeist im engsten Radius um Manchester, später aber auch in London (wo Curtis seinen ersten epileptischen Anfall erlebt), im Juni 79’ der erste Longplayer, „Unknown pleasures“, im Oktober gleichen Jahres, mit dem Beginn der UK-Tour, als sechswöchiger Support der Buzzcocks, die Single „Transmission“, zu Beginn des Folgejahres eine ausgedehnte Tour durch Europa (die die Briten auch nach Köln und Berlin führt), Curtis leidet nun mehr und mehr unter den immer häufiger auftretenden Anfällen – die auf der Bühne nicht selten als Teil der darüber hinaus eindrucksvollen Show erachtet werden -, wie auch unter Schlafstörungen, die Ehe, die 75’ unter Androhungen von Gewalt (gegen sich selbst) seitens Curtis, geschlossen wird, beginnt sich zu entfremden, er lernt auf einem Konzert in Brüssel die Belgierin Annik Honoré kennen, wessen Liebe und Vereinnahmung gleichsam Hass und Zuneigung hervorrufen sollte („I’ve got this problem. I met this girl in Europe and I’m married with a kid“), gleichsam erste Partnerschaft nach und nach zerfasert, seine erste Tochter Natalie wird geboren (April 79’), beständige Geldsorgen treiben Curtis dazu die Proberäume der Band reinigen zu müssen, er klebt die Sleeves jenes Debuts Durutti Columns („The return of…“) gegen Entlohnung, die darum erhöht ausfällt, als dass die Bandkollegen ihre Arbeit freundschaftlich ihm übergehen, es schließen sich Selbstmordversuche u.a. mit jenen Medikamenten an, die nicht anschlagen, nicht richtig dosiert und aufeinander abgestimmt sind, zuweilen den seinen Zustand sogar nur und mehr und weiter verschlimmern, er sehnt sich zurück zu dem, was jetzt nach und nach vom Abgrund zu den Füssen runterzubröckeln beginnt, plant sogar in Holland einen Buchladen zu eröffnen, was er tags darauf wieder verwirft, denn für den Mai 80’ ist schließlich bereits die erste Tour durch die Vereinigten Staaten veranschlagt und die Arbeiten an „Closer“ schon seit Mitte März im Britania Row (Islington) in vollem Gange. „Ian was actually loads of fun“ merkt Wilson später an. Wäre der Satz nicht zu Anfang der musikalischen Beziehung zueinander getroffen, müsste man es für grausamsten Galgenhumor halten.

Was „Closer“ wirklich ist, ist ähnlich schwer zu beschreiben, wie den eigentlichen Grund, den Curtis, nach dem letzten Streit mit Deborah, dazu bewog, den Fernseher anzustellen, um festzustellen, dass auch jenes Leben Stroszeks, im gleichnamigen Film Herzogs, nicht mit glamourösem Leben, sondern Selbstmord endet. Auf dem Plattenteller muss sich noch Iggy Pops „The Idiot“ gedreht haben und es ist tatsächlich ein wenig wie im gleichnamigen Roman Dostojewskis, der wohl auch Curtis bekannt gewesen sein dürfte. Noch ein Straucheln vor dem Fall, ein ängstlich zuckendes Atmen vor dem Ersticken, ein Hoffen, dass die Selbstzerfleischung irgendwann enden muss und mit jedem Zweifel vergeht; es ist sein erbarmungsloser Kampf mit sich selbst, der den noch jungen Musiker, der von anerkannten Größen wie Mogwai, Moby, Nine Inch Nails, bis hin zu The Smiths geschätzt und als Haupteinfluss angegeben wird, weit hinunter auf den Grund des eigenen Ichs bringt und dringen lässt, so schnell und tief, dass die Gänge auf dem Rückweg, in aller Benommenheit und Betäubung nicht mehr unterscheidbar sind. „Closer“ ist die schizoide Angst vor Nähe und dem eigenen Handeln. Es erzählt fragmentarisch die Geschichte des unaufhaltsamen Scheiterns, der immerwiederkehrenden Fehler menschlichen Denkens, der Vereinsamung innerhalb jeder Gesellschaft, selbst der Isolation zu sich selbst. Als Opener beginnt „Atrocity exhibition” holpernd und sprudelt unterschwellig, als liefen die Keyboardsounds, der Lava gleich, unter dem erdigen Gerüst aus Bass und Schlagzeug; das wache Auge beobachtet derweil die Szenerie und sieht sie: Anstalten, in welchen jene Insassen, die meinen (immer)noch zu leben, nach vorangegangener Bezahlung von Schaulustigen betrachtet werden können, Kampfarenen, in welchen selbige den Tod der Gladiatoren, mit den Händen zu Gott anhebend, herbeisehnen, Massenmörder in endlosen Reihen, brennende Pfade längst vergangener Tage, die wieder und wieder präsent werden. „Nimm meine Hand und ich werde Dir zeigen, was war – und sein wird. Das ist der (unser) Weg, tritt herein“. Es ist eine eigentümliche Weise, wie Curtis Worte zu Papier bringt, nicht als wäre das lyrische Ich zwingend von genauer Bedeutung, so introspektiv ein jeder seiner Texte auch ist, bleibt, bei aller Intensität und Eindringlichkeit des Vortrages, die Unsicherheit, ob nicht bereits eine dritte Person die Feder hält, Curtis sodann von sich als bereits gescheitertes Abstraktum spricht, die Schuld nach innen kehrt und bereits das Henkerbeil hebt. Es ist Lyrik, die ohne Urteil bleibt, eine reine Festellung, die Schuld und Schwäche erkennt, aber nicht bewertet und zu jeder Sekunde, was sie von all jenen selbstmitleidig wimmernden Gesellschafts- und Selbstkritikern abhebt, dabei noch regelrecht kafkaesk bis zum letzten Satz klar, präzise, eindeutig und für jedes Kind im Sinne des Wortes verständlich ist. Joy Division ist die aufrichtigste und ehrlichste Musik der Welt. „Mutter, ich versuchte es, bitte glaub’ mir/Ich gebe mein bestes/Ich schäme mich für die Dinge, die ich durchsetzte, für die Person die ich bin – Aber wenn Du nur diese Schönheit, dieses Etwas, das ich nie beschreiben konnte, sehen könntest/diese Freuden und eigensinnigen Zerstreuungen/Ist das (etwa) mein wundervoller Preis?“ („Isolation“).

Vor einiger Zeit las’ ich eine Bemerkung, die „Closer“ mit einem Gang durch die weitläufigen Räume eines Hauses verglich, wessen Ende das Dach bildet. Da ist ziemlich viel dran. Mit jedem Song tritt Curtis weiter in sich, beginnt mehr und mehr zu zweifeln, ist sich nicht mehr sicher, ob das Licht in der Ferne nicht auch ein Zug sein könnte, der ihm da unaufhaltsam entgegenkommt. „Das ist die Krise, von der ich wusste, dass sich kommen würde und die das Gleichgewicht, das ich zuvor noch hielt, zerstört/Ich zweifle, bin verwirrt und wende mich um, staunend gegenüber dem, was als nächstes kommen wird“ tönt es demütig und niedergeschlagen in „Passover“, während sich Sumners, auf „Closer“ fast noch präsentere Gitarre unter die Haut schält. „Werde ich jenes, was sie lehrten, vergeben und vergessen oder erneut Wüsten und Ödland queren, um zu sehen, wie sie aus (ewigem) Strand entstehen?“. Es ist nicht nur die Eindeutigkeit der Worte, sondern auch die Schönheit des Vergleichs, die die Texte Curtis’ sogar abseits des musikalischen Kontexts lesenswert machen, zumal Pläne dieser Art offenbar nicht ganz abwegig gewesen sein dürften („He was a fantastic writer and had plans for various works“). Im Grunde ist ein jeder erwähnenswert. Wie sich das (innere) Kind in „Colony“ in eben dieser, die kalt und Schauplatz grausamer Kämpfe geworden ist, ausgesetzt an Gott wendet, wie in „A means to an end“ tiefstes Vertrauen in die Freundschaft heranwächst und sich in „Heart and soul“, so kann man es vielleicht interpretieren, ein Zwiegespräch mit jener höheren Instanz abzeichnet, über die sich Existenz und Sinn dieser erklären lässt. „Nun, was bedeutet Existenz? Ich existiere im besten Verhältnis (?), das ich kann//Die Vergangenheit ist nun Teil meiner Zukunft, die Gegenwart längst verschwunden/Herz und Seele – eines (von beiden) wird brennen“.
„Closer“ ist ein Album, das zwei Stränge vereint: Der Gedanke, der die Einsamkeit thematisiert, die Curtis’ Seele eisig packt, der Unsicherheit, ob in dieser weit von ihm entfernten Kolonie Nähe gespürt werden kann, überhaupt noch präsent ist, dann der andere, der letztere direkt ängstlich abweist, der alles auf und über sich einstürzen sieht, sich an die eigene Kindheit zurück zu entsinnen beginnt, vom ständigen Reisen, der ewigen Rastlosigkeit, ebenso ratlos wird, wie gegenüber Zuneigung, die so tiefe Spuren hinterlässt, wenn man bedenkt wie verunsichert Curtis den Platz zwischen zweien Stühlen wählt, dass es ihm zur völligen Selbstaufgabe nicht mehr weit zu sein scheint. Er sucht nach sich selbst und wird unsicher, ob er davon nicht verschluckt wird, ist gleichsam Musiker, kann aber nur unschlüssig werden, bezüglich dem, was er damit letztlich nach außen trägt. „He insisted he had regressed to a previous life“ (Deborah)

Es ist ein unheimlich warmes und aufbauendes Album, denn es lässt Schmerz und Leid fühlen. Es ist auch nicht düster, sondern nur dunkel, denn es zeigt nie mehr als menschlichen Abgrund, der hier in vielen Formen Gesicht zeigt. Es ist nicht Verachtung, an der Curtis scheitert, sondern Liebe. Es ist wohl in etwa, wie bei jenen Menschen, die allen Qualen zum Trotz ihr Ziel erreichen und noch auf dieser Linie tot in sich zusammensinken. „Ich erkannte nie die Länge (des Weges), den ich gehen musste/All diese dunklen Winkel einer Empfindung, die ich nicht kannte/Nur für einen Moment hörte ich jemanden rufen/Ich entsann mich jener Dinge, die stattgefunden hatten/Dort ist überhaupt nichts“. „Twenty-four hours“ ist vielleicht der tragischste Song, den Curtis zu Papier bringen sollte, hier wird jede Schattierung von Leid fühlbar, jedes Wort klingt unter Schmerzen gesprochen („Ich gehe (nun) um meine Bestimmung zu finden, bevor es zu spät ist“). Es ist der letzte Akt, der ihn zum Gartentor hinunter führt, wo das Klavier einzusetzen beginnt, graue Wolken hängen in der Luft – „Ich lag am Eingang des Gartens/mein Blick weitet sich vom Gitter bis zur Wand/Nichts könnte es erklären, keine (meiner) Handlungen beenden/Ich betrachte nur die Bäume und Blätter, wenn sie fallen“.
Es klingt zwischenweltlich, was sich in den letzten Minuten des Werkes abspielt, dessen Veröffentlichung Curtis nicht mehr miterleben sollte. Das Cover zeigt zwei Frauen, die vor dem Leichnam des gefallen Christus knien, aufgenommen auf dem Staglieno Friedhof in Genua. „We, that’s we, like this one!“, der Entschluss für das Coverartwork fiel schon vor dem Tod des Sängers. Und es liegt dennoch ein wenig an Vorahnung in der Luft, wie bei jenen Künstlern, die den eigenen Untergang, auch wenn die Symptome noch so gering sind, bereits hinter der Tür wahrnehmen, wie bei jenem Drake, der eines der letzten Stücke dem schwarzäugigen Hund widmet, der bereits ums Haus zu gehen scheint. Das Buch, das Deborah später über ihre Beziehung zu Curtis schrieb und das Vorlage für den späteren „Control“, der möglichst klischeefrei bleiben sollte, lautet vielleicht nicht grundlos „Touching from a distance“. Da ist jetzt viel Spekulation inbegriffen, jedenfalls lichten sich aber in „Decades“ schlussendlich die Wolken, es wirkt zeremoniell, aber ist gleichsam der demütigste und schönste Track des Albums, vielleicht sogar in der Geschichte Joy Divisions selbst. Es ist wohl nicht möglich, die letzten Zeilen zu interpretieren, ohne dabei diversem Kitsch und Klischee auf den Leim zu gehen, aber was Curtis in „Decades“ für sich als Wahrheit erkennt, ist die, dass jenes, was er so lange suchte, mit der materiellen Existenz nicht vereinbar ist. Im Sinne der Selbstfindung, nicht der Todessehnsucht. „Wir brachten uns an unsere Grenzen, wir schleppen uns hinein/Wir sahen von den Flügeln herab, als das Drama von neuem begann und sahen uns in anderer Weise, als zuvor – innerlich erschöpft sind unsere Herzen nun für immer verloren“. Es scheint, als hätte die introvertierte Frage in „Heart and soul“ endlich ihre Antwort gefunden: „One will burn“.

„Unsere tiefste Angst ist nicht, daß wir ungenügend sind. Unsere tiefste Angst ist, daß wir über alle Maßen kraftvoll sind. Es ist unser Licht – nicht unsere Dunkelheit, das uns am meisten erschreckt.“ (Nelson Mandela)

--

Hold on Magnolia to that great highway moon