Re: Labyrinths – Irrlichts Alben-Faves

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irrlicht
Nihil

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Björk Vespertine
One little indian (2001)

Im Land der Seen und Gletscher

Wer hoch fliegt kann tief fallen oder aber umso mehr erreichen.

Wer den Charakter um Björks Musik erkennt, wird schnell wahrnehmen, dass die isländische Dame an Experimenten nicht geizt, ein ums andere Mal gar so sehr damit um sich wirft, dass die Musik und die besungenen Gefühle gänzlich mit ihr davon wehen. Gestalteten sich die Anfangstage, mit hymnenhaft anmutenden Stücken wie „Hyper-ballad“, „Isobel“, „Jóga“ oder „Hunter“, in ihrer Struktur noch weitestgehend konventionell, einem stets eingängigen und vor allem eindeutigen System folgend, steht ihr und dem Hörer mit „Vespertine“ ein Bruch mit sich selbst im Raum, der verzweifeln oder doch gänzlich verzaubern lässt.

Mehr und mehr verlagerte Björk ihre Musik in intime, private und introvertierte Gefilde, von ihrem nahezu gänzlich poppigen Debut, über das Ideen-Bombardement „Post“ und die hart-zarte „Homogenic“, die mit „Unravel“ und „Jóga“ tief einatmen und träumen lässt oder durch „Pluto“ den Hörer die ausladende, nahe an Brutalität grenzende Seite Björks offenbart, wie sie erst wieder auf „Volta“ in Erscheinung treten sollte, war der Weg zu „Vespertine“ (für mich) kein in dieser Hinsicht konsequenter, sondern eine Kehrtwendung, eine Neuorientierung in ihrem Schaffen, aber letztlich doch ein Fokussieren all ihrer (an)gesammelten Stärken.

So erklingt „Vespertine“ bereits mit „Hidden place“ zurückgezogen, entrückt, fast ein wenig unvertraut und surreal. Durch intensiven Bass intoniert, der das Grundgerüst legt und leicht an den Opener des Vorgängers erinnert, erfrischend ausladende Choräle zwischen Schönheit und Bedrohung, wie sie das ganze Werk durchziehen und die einzigartig nuancierte, elfenhafte Stimme – Björk hat über die Jahre nichts von ihrer Unberechenbarkeit verloren.

Was sich hier von „Hidden place“ bis „Unison“ abzeichnet und als roter Faden ebenso zu sehen ist, wie als faszinierende Veränderung in ihrem musikalischen Kosmos, ist die Hinwendung zum Verschachtelten. Der passende Anlass, um sich endlich all jener Dinge, die man einst an der Spitze des Berges aufsammelte, zu bedienen. „Hidden place“ ist ein erhebender Titel, Björk besingt Liebe und Leidenschaft, die sie versucht an einem verborgenen Ort sorgsam in den Schlaf zu singen, den Wunsch sich völlig der Welt zu entziehen, was in dieser Konsequenz weite Teile der verschneiten „Vespertine“ durchzieht und durch den Titel des folgenden Stücks bestärkt wird. „Cocoon“ ist (feder)leicht und lieblich, eine zarte Monodie an Verirrung und Faszination, die nur von klackernden Soundspielereien getragen wird und Björk nicht nur im dazugehörigen Video entblößt darstellt. Zu leicht ist alles, die Stimme flüstert die Worte regelrecht und man ist schon nahe daran, die Protagonistin beim nächsten Windstoß festzuhalten zu wollen. Die Kehrseite der reservierten Darbietung.

Im Grunde macht es allerdings wenig Sinn, Song für Song zu skizzieren, da „Vespertine“ wie kaum ein anderes Werk von seiner, nun, Homogenität, seinem trabenden Auf und Ab, einer tiefen Ausgeglichenheit und nicht zuletzt seiner absoluter Schönheit lebt, der man sich, sollte man einmal dahintergekommen sein, nicht mehr entziehen kann. Seien es die erhabenen Kinderchöre in „It’s not up to you“, die nach „Cocoon“ die atemlose Welt zu beleben scheinen, das stotternde „Undo“, das mehrere Gesangsspuren ineinander laufen lässt und schlussendlich in einen riesigen Chor mündet, die Tiefgründigkeit des sogartig zirpenden „An echo, a stain“ oder das sensitive, von Glockenspielen getragene „Sun in my mouth“, welches Björk den eigenen Körper erfühlen lässt: Alles umgibt etwas sehr frisches, fast exotisches und verbindet die Neigung Melodien tief unter den (modernsten) Keyboard-Sounds zu verhüllen. Dabei, um vielen Kritiken entgegenzutreten, besitzen einige der vorwiegend elektronisch unterlegten Titel durchaus eingängigen, schlüssigen Charakter.

„Pagan poetry“, mit Effekten, unter der Leitung einer ungemein sinnlichen Harfenmelodien Zeena Parkins’, versehen und seiner Zäsur kurz vor dem Ende, ist dabei ebenso schön zu hören wie der freudig-repetitive Singsang von „Heirloom“, der die Verbundenheit zu Mutter und Sohn beschreibt. Dass diese in der Nacht (über ihr) wachen und warmes Öl über die heiseren Stimmbänder träufeln ist nebenbei auch ein sehr schönes (Sinn)Bild um Geborgenheit zu beschreiben, wie ich finde.

Abseits der fein durcharrangierten Midtempo-Tracks der ersten Hälfte gibt es aber auch ganz ruhige und fröstelnde Titel, wie das Doppelspiel „Frosti/Aurora“, für welches Björk die Geräusche von zerbrechendem Eis und dem Lauf über Schnee verwendete. So klingt „Frosti“, man ließ extra Spieluhren aus Plexiglas anfertigen, tatsächlich, als reguliere die fragile Madame Extravaganz, mit an Glockenspielen erinnernden Geräuschen, die Nordlichter über den verschneiten Gebirgen, während „Aurora“, verträumt und getragen, wahrscheinlich das schönste Björk Stück überhaupt darstellt. „Harm of will“ hingegen ist klassisch angelegt, ein langsamer Titel mit leichtem Atem, der angeblich von Harmony Korine über Will Oldham geschrieben wurde.

Und dann gibt es noch „Unison“, ein sensibler Song über Einklang und Harmonie, Wünsche und Unsicherheit, der dann aber doch regelrecht freundlich und verspielt daherkommt und letztlich mit gutem Gefühl in die Welt zurück wirf. Denn: Mag manches schon auf „Homogenic“ anzutreffen gewesen sein, mit „Vespertine“ lädt Björk verstärkt zu einem Blick auf Island. Nach eigener Aussage sollte „Vespertine“ (ehem: „Domestika“) winterliches Ambiente bannen und so ist das Werk tatsächlich ein vertonter Ausschnitt ihrer Heimat.

Mit Percussion, Elektronik (u.a. shuffling cards („Pagan poetry“, „Cocoon“, „Hidden place“) und die (Musik-)Spielbox in „Frosti“), Geigen, Harfentönen und einem wirklich wunderbaren Inuit-Chor ausstaffiert, zauberte die Dame aus dem Land der Elfen und Seen mit „Vespertine“ ihr wohl bestes Album. Mit „Medúlla“ ging die experimentelle Reise noch weiter, wobei mir dort einige Ideen (bis heute) nicht zwingend erscheinen, manches Mal sogar überstrapaziert. So ist das invasive „Vespertine“ manches Mal etwas zu lang geraten, aber so eigentümlich (und nebenbei auch äußerst schön produziert), dass mir stets ein positives Gefühl zurückbleibt. Ein audiophiles Hörerlebnis.

Und um auf meinen ersten Satz zurückzukommen: Wie alle ihre Werke ist auch „Vespertine“ ein Wagnis, mit jedem neuen Album scheinen sich die Geister erneut an ihrer zu scheiden. Daher schließe ich passend dazu mit einem isländischen Sprichwort, das ich mir vor längerer Zeit notiert habe: Diejenigen, denen nichts mißlungen ist, können nicht groß sein. (Theim sem ekki hefur mistekist eitthvath geta ekki verith miklir).

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Hold on Magnolia to that great highway moon