Re: Musik aus unterschiedlichen Kulturkreisen – was hört man / worauf verzichtet man

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nail75

Registriert seit: 16.10.2006

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dougsahm
Es gab mal vorwiegend im PN-Bereich eine Mini-Diskussion, inwiefern man Musik aus einem Kulturkreis, den man sich nicht durch eigeninitiative Beschäftigung (sei es Bereisen oder mindestens Literatur) sich erschlossen hat, überhaupt bewerten und genießen kann.

Ich meine ja. Sonst würden zumindest bei meinen Hörverhalten afrikanische Musik, südamerikanische Musik, Balkanmusik und ggfs sogar Reggae unter den Tisch fallen. Tun sie aber nicht. Dick schreiben möchte ich: Ich stimme zu, dass Reisen und anderweitige Informationsbeschaffung natürlich förderlich sind. Aber sind sie eine Bedingung, ohne die es nicht geht (Hauptfrage) ?

Frage 2:
Weil manchmal letztere Meinung vertreten wird, konzentrieren sich manche auf den angloamerikanischen Bereich. Und noch spezieller liegen dann liegen dann wiederum vereinzelt ALLGEMEINE unterschiedliche Vorlieben entweder für die Interpreten der USA oder der Insel … woran könnte das denn nun wieder liegen (Nebenfrage) ?

Der Zusammenhang zwischen „bewerten“ und „genießen“ erschließt sich mir nicht ganz, daher orientiert sich meine Antwort am Faktor des „Genießens“.

Wenn man die Frage ganz streng nimmt, geht sie eigentlich von falschen Voraussetzungen aus. Es ist doch offensichtlich so, dass Menschen viel Musik aus Kulturkreisen hören, die sie nicht kennen. Das würden sie ja nicht tun, wenn sie die Musik nicht schätzten. Die Frage ist also eigentlich, ob Menschen Musik aus fremden Kulturkreisen hören sollten. Oder tue ich Dir damit Unrecht, dougsahm?

Aus meiner Sicht gibt es keinen Grund, Musik nicht zu genießen, die aus fremden Kulturkreisen stammt. Es gibt nun sehr viele Kulturkreise auf der Welt und nur mit ganz wenigen kann man sich in einem Leben vertraut machen. Außerdem unterschätzen viele häufig die Distanz selbst zu nahen und anscheinend vertrauten Kulturkreisen (wer das mal austesten will, fahre mal mit 170km/h über Schweizer Autobahnen oder trinke in den USA ein Bier unverhüllt in der Öffentlichkeit). Neben der kulturellen gibt es außerdem eine historische Distanz. Wer kann schon ernsthaft behaupten, ihm sei das New Orleans der 20er Jahre vertraut?

Wenn ich gerne lateinamerikanische Musik höre, ich aber kein Spanisch oder Portugiesisch kann, noch nie dort war und mich auch noch nie für diese Länder interessiert habe, wieso sollte ich denn nicht dennoch diese Musik mögen? Ist Musik nicht ein Kulturgult, das Grenzen überspringt bzw. Gemeinsamkeiten über Grenzen hinweg schafft? Wieso lieben die Finnen den Tango so sehr? Wieso spielt man in Europa Jazz? Wieso klingt der afro-amerikanische und der afrikanische Blues (A. F. Touré) so ähnlich? Haben die Finnen erst kollektiv Volkshochschulkurse belegt und dann per Volksabstimmung entschieden, dass sie ab sofort nach Tango verrückt sind?

Natürlich nicht, es handelt sich um kulturellen Austausch und der ist seit Jahrtausenden eine Grundkonstante menschlicher Gesellschaft. Er ist nicht nur erwünscht, sondern geradezu notwendig für die Entstehung von Kultur, ihrer Verfeinerung und Entwicklung! Von wem übernahmen die Griechen das Alphabet? Mit welchen Zahlen schreiben wir? Aus welcher Sprache stammt das Wort „Fenster“?

Wer sich also für Musik aus Lampukistan interessiert, ohne zu wissen, wo das liegt, der verstößt nicht gegen das eherne Gesetz, dass ethnokulturelle Studien die Voraussetzung für Musik (oder Kultur-)Genuss sind, sondern der handelt einfach ganz zwangsläufig. Wenn man sich aufgrund von Musik mit einem Land näher beschäftigen will – super! Aber das ist keine Voraussetzung. Wer einfach nur Spaß haben oder gut unterhalten sein will, der versündigt sich nicht an irgendetwas oder irgendwem, wenn ihm völlig schnuppe ist, wo Miles Davis geboren wurde oder wie alt Brian Jones wurde. Dass wir hier im Forum darüber hinausgehen wollen, ändert daran nichts.

Die Antwort auf die zweite Frage ist – aus meiner Sicht – viel schwieriger. Daher stelle ich sie mal zurück und warte ab, was sich aus der Diskussion zu Frage 1 noch ergibt.

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Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum.