Antwort auf: Die Übermacht der Nostalgie in der Wahrnehmung von Popmusik

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santander

Registriert seit: 22.09.2005

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Mofas, Weiber, Bier und Westernhagen. Erlittenes Leben. Mein Beileid. Und Gratulation zur späteren Emanzipation. Soweit sind nicht alle gekommen. Manch einer hört sie noch trotzig, seine „Maxis“. Und steht auch sonst mannhaft zu den ästhetischen Unzulänglichkeiten seiner musikalisch verpfuschten Jugend.

Schon merkwürdig, daß man unter Cineasten keinen finden wird, der sich noch gern „Liebesglück mit Alpenblick“ ansieht, weil er diese Schmonzette als 11Jähriger mit seiner Tante im seinerzeit einzigen Kino weit und breit erleben durfte. Undenkbar auch, von einem erwachsenen Literaturkenner zu hören, seine Bettlektüre bestünde aus den Abenteuern von Hanni und Nanni. Wenn es aber um Musikkonsum geht, scheint es keine Nostalgie-Schamgrenzen zu geben. Bei nicht wenigen brechen da habituell alle Dämme, denken sie nur daran zurück, wie ihnen Mami immer Grießklößchensuppe kochte, während sie auf der Wohnzimmercouch Ilja Richters „Disco“ schauten, mit tollen Sketchen und noch tollerer Musik: Nina, Udo und Spliff. Und dann die tollen Nächte mit dem „Rockpalast“ erst! Bier, Weiber und Westernhagen. Und am nächsten Morgen mit Kater und Mofa zur Schule. Geile Zeit, das. Später mit 16 dann umgesattelt. Von Mofa auf Moped, von „Bravo“ auf „Musikexpress“, von Maffay und Marius auf Axl und Jon. Auch geil. Mit 18 Führerschein, dann Bundeswehr. Keine Weiber, aber Bier! Das hat gerockt! Viel Queen gehört und gegrölt. „We Will Rock You“ und „We Are The Champions“! Einfach nur geil, etc.pp. Das zieht sich hin, nicht selten bis in die Jetztzeit.

Ungebrochene Schreckensbiographien wie diese sind es, die schlechte Musik nicht nur bewahren, sondern bei Bedarf sentimentalisch aufladen.

Das Phänomen gibt es tatsächlich, auch hier im Forum (gab es hier nicht mal jemandem, der aus sentimentalen Gründen diese ganze Schlagermusik, Peter Cornelius usw. favorisierte?)

Ich denke, in solchen Momenten geht es überhaupt nicht um Musik, sondern um die gesamte Lebenswelt, die man virtuell für einen Moment zurückholen möchte. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit sozusagen, und dabei gehts ja auch nicht nur um „Zeit“, sondern um gelebtes Leben. Was dabei ausgeschaltet wird, ist freilich jegliche Reflexion über die Qualität der jeweiligen Musik – eben weil diese Musik lediglich als Element – wenn auch als wesentliches Element – der einstigen Lebenswelt fungiert. Also im Grunde geht es überhaupt nicht um Musik, wie Du sie thematisierst (und äußerst lebendig reflektierst).

Hier mal ein weiteres, eindrucksvolles Beispiel einer „Schreckensbiographie“, geschrieben von einem jenseits der Mauer aufgewachsenen Fan der Sendung „Studio 89“ von Barry Graves (ich denke, viele werden sich noch an ihn erinnern). Hier geht es um Musik und doch nicht um Musik (jedenfalls nicht in Deinem Sinne, Wolfgang). Er will vielmehr die damalige Lebenswelt wiederaufleben lassen und dem Leser überliefern.

Vorab nur kurz zu dem Text: Ich selber bin ja auch jenseits der Mauer aufgewachsen, habe auch sehr viel RIAS, SFB, BFBS usw. konsumiert, bin allerdings beträchtlich jünger als der Schreiber hier – so krass habe ich das nie erlebt (obwohl ich das mit den Tonbändern / MCs nachvollziehen kann). Dafür habe ich aber mal Barry Graves Anfang 1990 selbst getroffen. Barry war damals sehr interessiert an Ostberlin, wollte wissen, wie die Jugendlichen da so ticken, was sie hören, wie sie sich anziehen, in welche Clubs sie gehen usw. Ein Bekannter, der mit ihm befreundet war, lud mich zu einem Treffen ein, weil er meinte, ich könne sehr gut dazu beitragen, Barrys Neugier zu befriedigen. Ich hatte jahrelang Graves gehört, ja hörte ihn damals nach seinem Weggang vom RIAS ununterbrochen im SFB und wollte ihn natürlich treffen. Das Treffen war etwas sonderbar, wir trafen uns nicht im Cafe oder in der Kneipe, sondern mitten auf dem Rosenthaler Platz, weil Barry U-Bahn fahren und auf diese Weise Ostberlin erschließen wollte. Und das haben wir dann auch gemacht, sind kreuz und quer mit der U-Bahn durch Ostberlin gefahren, sind immer mal ausgestiegen und haben uns die Gegend angesehen. Barry fand das alles interessant; während der Fahrt redete er sehr viel über alle möglichen Themen, über Filme, die er gesehen hatte (waren auch DDR-Filme dabei), irgendwelche Zeitungsartikel, neueste Trends usw. Ostberlin fand er gar nicht schlimm, ein wenig grau, aber er meinte, mit ein wenig Lichtreklame überall wird das in kürzester Zeit schon alles ganz wunderbar sein. – Zu einem zweiten Treffen kam es dann leider nicht mehr, obwohl er uns dazu einlud (mein Bekannter hat dann später noch Interviews für ihn mit Ostberliner Jugendlichen gemacht, die dann auch in Barrys Sendung liefen). Ich war längere Zeit weg aus Berlin, später hörte ich dann, dass Barry gestorben war.

Okay, das war jetzt mein persönlicher Nostalgie-Anfall (Flanieren vom Rosenthaler zum Rosa-Luxemburg-Platz in Ostberlin unter eisengrauem Himmel mit einem munter plaudernden Barry Graves).

Wenn ich nun Stücke höre wie „The Glamorous Life“ von Sheila E. oder überhaupt irgendwas aus den US-Dance-Charts der 80er-Jahre, wenn ich Prince höre, die Jacksons, Donna Summer, Patrice Rushen usw. und alles, was Herr Rossi als „Disco“ bezeichnet (was ich selten mache), dann erinnert mich das natürlich an Barry, und nicht nur an ihn, sondern an die gesamte damalige Zeit. Es ist dann kein wirklich reflektiertes Hören mehr, aber ich lasse es halt durchlaufen (wie gesagt, selten, nicht gezielt, zufällig). Ich denke, Wolfgang ging es hier primär um Reflexion, und das ist auch sehr gut so und sollte unterstützt werden. Aber viele wollen halt nicht reflektieren.

Habe mich etwas verschwatzt. Hier nun der Nostalgie-Anfall, eine weitere „Schreckensbiographie“ eines Menschen, der im Süden der DDR gelebt hat, entnommen einer etwas dilettantisch gemachten Barry-Graves Huldigungssite. Ich vermute, wenn dieser Mensch heute Musik aus dieser Zeit hört, dann schaltet er auch die Reflexion ab, weil es ihm primär um das gelebte Leben, die Lebenswelt geht, die ihm durch die Musik in unglaublich intimer Weise wieder nahegebracht wird ( http://www.studio89.de/mein89.htm ):

Wir waren jung und cool, wir waren wild, wir waren versoffen. Viele meiner langhaarigen Bekannten nannten sich „Kunde“ und rannten im grünen Parka aus dem Westen rum. Der Rest kaufte eben den aus der HO. Brotbeutel mit US-Sticker oder Peace Symbol, Stirnband und Kassettenrekorder waren ein muss. Irgendwann, ich weiß nicht mehr genau wann, es muss Anfang der 70er gewesen sein, begannen wir einem neuen Hobby zu frönen – dem Tanzen gehen. Wobei der Ausdruck nicht ganz der Wahrheit entsprach, es war mehr ein Saufgelage. Diskotheken waren noch nicht sehr verbreitet (laut Schätzungen gab es erst 10 Lokale die Diskos abhielten), aber sehr viele Tanzveranstaltungen, oft Jugendtanz genannt wurden angeboten. Aus Mangel an geeigneten Häusern fanden diese meist in Speisesälen großer Fabriken statt. Huch wird manch einer heute denke, Underground. Bei weitem nicht, die Säle waren sporadisch eingerichtet, alles was zu viel war verschwand in der Ecke. Die Essenausgabe, an der die Arbeiter in der Woche täglich ihr Mittagessen abholten, wurde zum Tresen umfunktioniert und eine kleine Bühne war oft vorhanden. […] Obwohl jedes Wochenende sehr viele Veranstaltungen angeboten wurden, reichte es oft nicht aus und so entstand ein riesiges Gedränge an der Eingangstür, was sicher auch dem niedrigen Eintrittspreis geschuldet war. Der FDJ Ordnungsdienst hatte die Lage zu kontrollieren. Endlich, nach Entrichtung des Eintrittspreises (3,10 Mark bis 5,10 Mark die 10 Pfennige standen für die Kulturabgabe) oder man kannte jemanden, drin angekommen begann auch schon das große Saufen. Nach etwa einer Stunde oder später kamen die „Stars“, die Kapelle. Das Motto, je später ein Gig begann um so besser die Band, galt nicht überall. In aller Ruhe bauten sie ihre Anlage mit „West“ Equipment auf. Als es dann endlich losging, war fast die Hälfte des Saales schon besoffen. Der Rest, die Frauen und die Kampftrinker, die vertrugen mehr. […] Zu rund 95 % oder mehr wurden internationale Titel „nachempfunden“. Wobei ich sagen muss, einige Gruppen hatten das echt drauf, ja ich glaube sie spielten die Titel weitaus detailgetreuer als vielleicht die Originalbands. Dies viel mir später auf, als ich Konzerte der „Originale“ im TV (oft Rockpalast) sah oder selbst besuchte. Man hatte mitunter arge Probleme die Titel zu erkennen. Gespielt wurde von den DDR Gruppen so ziemlich alles was Rang und Namen hatte. […]
Irgendwann, die Beatles waren noch in der Hitparade, Soldatensender, Radio Luxemburg, und andere Sender hatte ich hinter mir gelassen, entdeckte ich den RIAS. Das war nicht leicht, der Empfang war lausig, die Mutter in der Partei, ja nicht mal die Hausgemeinschaft durfte das mitbekommen. Es hatte nicht lange gedauert, dann wurde ich süchtig! Die Sendungen, die ich hörte wurden immer mehr, die Nacht wurde immer länger. Mein erster Begleiter war mein Kassettenrekorder KT 100. Ich zog mit Kumpels um die Häuser und wir spielten Karten, mein Rekorder war immer dabei. […]
Als ich dann in meine erste eigene Wohnung umzog, waren alle Hemmungen dahin. Bis früh 5 oder 6 Uhr hörte ich den RIAS. Die langen Nächte, Rock over RIAS, Discodrom, Studio 89 die vielen Sondersendungen, alles hatte ich mir reingezogen. Einen Haken hatte das allerdings, der Zeitfaktor denn nebenher agierte ich für fast 10 Jahre als DJ in der Stadt und Umgebung. Das hatte den Vorteil, das ich mit dem Ausweis des „Schallplattenunterhalters“ bevorzugt an die begehrten Lizenzplatten herankam. Auf der anderen Seite hatte ich für Studio 89 oft keine Zeit mehr. Denn die Samstagsdisko ging ja auch immer bis fast 24:00 Uhr. Dann noch abrechnen und verpacken, nach Hause fahren und auspacken. Da konnte es schon mal 1 Uhr oder später werden. Und bekanntlich endete Studio 89 bereits 1:30 Uhr.
Was also machen? Ich kaufte mir eine Zeitschaltuhr. Nun gab es keine digitalen, wie sie heute in vielen Haushalten zum Einsatz kommen. Nein, es war eine mechanische Zeitschaltuhr. Drin war so was wie ein Motor, der fing an zu rasseln wenn man das Ding in die Steckdose steckte. Daran kam dann das auf Aufnahme gestellte Spulentonbandgerät. Das Radio hatte ich angelassen.
Ich sag euch, eine traumatische Erfahrung. Entweder schaltete die Uhr zur falschen Zeit ein und aus (so genau konnte man das nicht festlegen und so genau ging das Ding auch nicht), dann war das Band alle ohne das was aufgenommen wurde oder der Empfang war miserabel bis gar nicht vorhanden. Oh Man, wie viele Bänder hatte ich mit Rauschen aufgenommen. Als ob das nicht genug wäre, ein ganz klein wenig kam mitunter der Empfang wieder und man konnte lechzend die Super Disconet Remixe erahnen, die nun nicht auf dem Band waren. Was habe ich damals getobt, obwohl es dadurch auch nicht besser wurde. Es gab ja immerhin noch weitere Möglichkeit, die Sendung wurde verschoben oder abgesetzt oder begann später oder… Das waren schon schwere Zeiten, als ich, wenn ich schon mal zu Hause war, mit der Antenne im Schlafzimmer herumgerannt bin um sie in die richtige Position zu bringen. Und pünktlich 23:30 Uhr, da konnte man darauf wetten, schwand langsam aber sicher der Empfang. So das ich gerade noch den Anfang erahnen konnte. Dabei war meine Antenne nicht gerade klein, ich glaube sie füllte ein Viertel meines Schlafzimmers aus (eigentlich hatte ich mit dem Zimmer andere Pläne). Nur, ich hatte sie eben nicht auf dem Dach, weil ich Höhenangst habe. Später dann habe ich mir die Antennenanlage bauen lassen, doch da war es für Studio 89 zu spät.
Und so kommt es auch, das selbst ich, der Initiator dieser Seiten nicht die große Masse an Material aus dieser Zeit habe. […]
Als die Sendung zu Ende war, verlor ich auch Barry Graves aus den Augen. Ich war schon damals und bin wohl zeitlebens ein großer Verehrer von ihm. Er, das weiß ich heute, zog zum SFB – ein Sender den man im Süden der DDR nicht hereinbekam. […]

So war sie halt, meine Jugend. Februar 2007

Ich bin mir sicher, wenn wir ihm einen der Remixe aus den 80s vorspielen – und sei es der billigste (Barry war seinerzeit ja so begeistert von Stücken wie „Killer“ von Adamski) – er wird es mit Freude durchlaufen lassen, weil er in diesem Moment schlicht nicht über Qualität, Weiterentwicklung usw. nachdenken will. Es wird ja nicht unbedingt Sehnsucht danach sein, das alles noch einmal zu durchleben, aber vielleicht der Trieb, auf der Suche nach der verlorenen Zeit die Vergangenheit einen Moment lang schaurig-schön wiederaufleben zu lassen, ganz unabhängig von einer vielleicht doch erfolgten „Weiterentwicklung“.

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