Re: Die Übermacht der Nostalgie in der Wahrnehmung von Popmusik

Startseite Foren Kulturgut Das musikalische Philosophicum Die Übermacht der Nostalgie in der Wahrnehmung von Popmusik Re: Die Übermacht der Nostalgie in der Wahrnehmung von Popmusik

#6891827  | PERMALINK

tolomoquinkolom

Registriert seit: 07.08.2008

Beiträge: 8,651

StaggerleeIch habe lange überlegt ob ich hierzu etwas schreiben soll. Zunächst einmal denke ich ist Nostalgie nichts außergewöhnliches- wie Mikko ganz richtig angemerkt hat, gibt es das Phänomen in allen Bereichen (Modelleisenbahnsammler, Barbiepuppen…). Ich bin davor keinesfalls selbst gefeit: Nie würde ich eine meiner Platten die ich in meiner Jugend erstanden habe veräussern- denn es ist tatsächlich wie ein Tagebuch meines Lebens.

Stagger, wer sich traut hier über eigene Gefühle zu reden, macht sich zwar angreifbar für Geschützbatterien Anderer, trägt aber unendlich mehr zu diesem Thread bei, als diese langweilige Gauklertruppe. Und Stagger, peinlich ist man nie selbst. Das sind oft nur die, die mit diesen Begriffen hantieren.

StaggerleeWarum also funktioniert gerade bei Popmusik Nostalgie so prächtig?

Musik ist die wohl zweit-direkteste Übermittlung von unmittelbaren Emotionen die ich kenne. Rückkopplungen zu verschütteten Gefühlen seiner eigenen Biographie sind nicht nur möglich, sondern so gut wie nie zu vermeiden. Was man im Grunde ja auch so und auch gerne aufnimmt. Man könnte dies Nostalgie nennen.

StaggerleeIch denke einiges bedenkenswertes ist hierüber schon geschrieben worden:

1.) Die Funktion von Popmusik: In meiner Jugend war kaum etwas definierender für meine Peergroup als unsere musikalischen Vorlieben- Mädchen waren fast Nebensache (für mich zumindest). Diese Funktion fällt natürlich im Erwachsenenalter weg. Stattdessen rückt dann eben Familie, Karriere etc.. in den Vordergrund

Oh! Eine Ubereinstimmung, was Mädchen betrifft. [Achtung: Scherz!]
Du hast das gut getroffen. In seiner Jugend hat man generell Schwierigkeiten sich überhaupt zu definieren. Pubertät, Hormone usw. [wurde bereits so oder ähnlich hier angesprochen] Musik war da oft sogar einzige Möglichkeit sich über diesen Umweg mit Altersgenosse auszutauschen. Selbstverständlich ging das dann auch über das Thema Musik hinaus.

Staggerlee2.) Die Wirkung von Popmusik: Wenige Dinge wirken unmittelbarer als (Pop-) musik- dies zeigt sich u.a. daran, daß es mir viel schwieriger vorkommt über Musik zu schreiben als ein Buch zu kritisieren. Eine kritische Auseinandersetzung ist dadurch erschwert.

Siehe oben. Ansonsten: Bei einer Rezension eines Musikalbums kann man sich in der Regel auf seine eigenen Empfindungen verlassen. Was du selbst fühlst, erlebst, kannst du auch besser beschreiben. Nochmal: Es sind deine Gedanken, deine Gefühle. Eine Buch-Rezension empfinde ich, wie du auch, schwerer, da dort keine eigene Empfindung der geschilderten Ereignisse erfolgt, sondern ein Umweg über die Gefühle und Gedankengänge des Autors stattfinden. Wenn man so will findet hier eine Übersetzung statt, die z.B. bei einer Übersetzung aus einem anderen Sprachraum einen nochmals größeren Empfindungsabstand erzeugen kann.

Staggerlee3.) Mit Musik ist es wie Sex: Wer erinnert sich nicht an das erste Mal- das erste mal Bowie hören oder eben das erste mal Neil Young (oder eben Bay City Rollers)- extrem prägend.

Ich sehe das genauso. Es gibt allerdings andere Meinungen, die dies für vernachlässigbare Gefühlsduselei halten. Wer Tolerant ist, weiß damit umzugehen.

Staggerlee4.) Die Warnehmung/das Image von Popmusik: Ich denke, daß Popmusik in unserer Gesellschaft immer noch als Jugendmusik wahrgenommen wird und zwar von Jugendlichen für Jugendliche- und damit als minderwertig. Dies zeigt sich einerseits durch geringe Wertschätzung (die meisten Popmusiksendungen sind tatsächlich an Dummheit kaum zu überbieten). Andererseits gibt es ja auch das Phänomen der „ewig Jung gebliebenen“- die sich von Kindergartenmusik berauschen lassen (ich kann mich z.B. noch gut an „Eine Insel mit zwei Bergen..“ erinnern- war das lustig). Auch dadurch wird eine ernsthafte/kritsiche Auseinandersetzung über Popmusik erschwert.

Ich möchte hierzu lediglich darauf hinweisen, dass hier im Thread bisher nur auf die Wechselwirkung Popmusik/ Jugend/ Gesellschaft eingegangen wurde, die hier in Europa stattfindet. Wer in Mittel- oder Südamerika bzw. Afrika heranwächst, nimmt Popmusik mit Sicherheit anders war, zumindest kann ich mir eine andere Wertigkeit derselben gut vorstellen.
Zum letzten Punkt kann ich wenig beitragen. Dieser scheint mir auch eher Bezüge zu TV herzustellen. Ich bin in der glücklichen Lage von diesem ganzen Müll verschont worden zu sein. Interessanterweise war dies während des Heranwachsens nie ein Problem.

StaggerleeDie andere Frage natürlich ist, in welches Verhältnis ich mich zu meinen Irrunngen und Wirrungen stelle. Durch mehr Hörerfahrung im Popbereich und vor allem Lektüre (Zeitschriften/Bücher)- ich denke insoweit unterscheide ich mich vom „Durchschnittsbürger“ – hat sich mein Urteil über vieles was in meiner Plattensammlung steht stark relativiert. Dennoch: Den Schritt mich dem zu Entledigen – hierzu bin ich selbst zu nostalgisch.

Genau. Es setzt irgendwann ein Relativierungsprozess ein. Was bleibt und was geht (aus Nostalgie oder anderen Gründen) entscheidet man selbst. Für clever halte ich diejenigen, die bei Erreichen der 18-Jahr-Marke nicht gleich alles zum Trödler tragen. Diese Vorgehensweise hätte übrigens auch vielen Vinyljägern eine Menge Kohleverluste erspart. So zahlen einige neben Lehrgeld nun obendrein auch noch überhöhte Phantasiepreise.

PS: Rossi, den Palmer habe ich aus dem Keller befreit. “Addicted to love” hat mein Herz zurückerobert. Er kommt auch gerade zur rechten Zeit. Gut, dass du ihn nochmal im Zusammenhang mit allerlei deiner Kellerleichen erwähnt hast. Für mich hat sich das jedenfalls ausgezahlt. Bin mit dem Robert wieder versöhnt. Und mit dir sehr zufrieden.

--