Startseite › Foren › Kulturgut › Das musikalische Philosophicum › Die Übermacht der Nostalgie in der Wahrnehmung von Popmusik › Re: Die Übermacht der Nostalgie in der Wahrnehmung von Popmusik
Realman Meines Erachtens handelt es sich um ein Scheinphänomen. Niemand hört sich Musik an, nur weil er sie schon als Kind gut fand. […] Ich zum Beispiel, war als kleiner Junge ein glühender Verehrer von Howard Carpendale und David Hasselhoff. Es würde mir aber im Traum nicht einfallen, heutzutage noch eine Carpendale Platte aufzulegen. Andererseits hab ich schon als Grundschüler Ebony and Ivory geliebt, ein Stück, das die meisten hier sicherlich gruselig finden. Diesen Song aber höre ich auch heute noch gern, aber dies nur aus einem einzigen Grunde: Weil ich ihn noch immer gut finde. Will heißen, ein Spielzeug oder eine Bibi Blocksberg Kassette nimmt man nicht mit ins Erwachsenenleben, weil man dafür als Erwachsener schlicht und einfach keine Verwendung mehr hat. Eine Bay City Rollers Platte kann ich aber auch noch 40 Jahre später toll finden. Wieso das dann so ist und man sich musikalisch möglicherweise nicht weiterentwickelt hat, ist eine ganz andere Frage. […]
Tja und ein weiterer Aspekt ist natürlich die emotionale Wirkung von Musik. Musik erfüllt viele Zwecke. Wenn ich in eine Disco oder gar ein Festzelt gehe, dann primär nicht wegen der Musik (obwohls natürlich schön wäre), sondern um mich „auszutoben“ und gehen zu lassen. Die Musik ist dabei nur das verbindende Element zwischen den verschiedenen Menschen. So kann es vorkommen, dass man schon mal zu Musik tanzt oder mitsingt, die man sich zu Hause nie im Leben anhören würde. Oft weiß man ja auch ganz genau, dass die Musik zu der man gerade tanzt der letzte Scheiß ist, aber man vergisst es für den Moment und lässt sich einfach mitreißen. […] Lange Rede kurzer Sinn, also wenn jemand tatsächlich seine Bay City Roller Platten mit ins Erwachsenenleben nimmt, so tut er dies in erster Linie, weil er die Musik noch mag. Oder die Schallplatte hat tatsächlich nur noch Nostalgierwert und dient alleine dem Sinn und Zweck, die Erinnerungen an alte Zeiten aufleben zu lassen.
Ich kann mir gut vorstellen dass jemand, nach seinem musikalischen Erweckungserlebnis und ehrlicher Beschäftigung mit sich selbst, als ein nun im Doebeling’schen Sinn Ent-Erbärmlichter, neben John Zorn, The Residents, Coltrane, King Crimson, Richard Kirk, Green On Red, Camper Van Beethoven, FSK, Half Japanese, Yo La Tengo, Captain Beefheart usw., auch ein paar seiner Jugendsünden mit in einen neuen Lebensabschnitt mitnimmt. Wenn er es wissentlich und aus sentimentalen Gründen tut, wäre das für mich in Ordnung. Aus stilistischen Gründen nicht. Knallgelbe Gummistiefel passen nicht zu Kleinem Schwarzen.
Beim Austoben habe ich keine Ohren für Musik, sondern Augen für eine bestimmte Gruppe von Anwesenden. Und beim erwähnten Tanz-Scheiß gebe ich dir Recht. Um den kann es aber in dieser Diskussion nicht gehen, ermöglicht er doch kaum eine ernsthafte Beschäftigung mit Musik. Im Bierzelt hat nicht einmal Wolfgang, Führer durch die wunderbare Welt der Schallkraft, Seen links, Schlösser rechts, eine Chance.
PS: Übrigens sehr schön, das es hier auch Leute gibt, die nicht in Formeln reden oder ausschließlich an einem gegenseitigen musikalischen Schiffeversenken interessiert sind.
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