Re: Die Übermacht der Nostalgie in der Wahrnehmung von Popmusik

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daniel_belsazar

Registriert seit: 19.04.2006

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MikkoDas „Zwanghafte“ kann ich in WDs Eingangspost auch nicht ausmachen, Herr Rossi. Aber natürlich sind Vokabeln wie „Selbsterniedrigung“ und „Dauerentblödung“ in diesem Zusammenhang eigentlich auch an der Sache vorbei. Diejenigen, die WD meint, empfinden das gewiss nicht so. Gemeint sind wohl eher Leute, die unter bestimmten Umständen (Party, Volksfest, Klassentreffen etc.) begeistert zu Musik tanzen und mitgröhlen, von der sie wissen oder zumindest ahnen, dass sie nicht die Werschätzung der Kritikerkaste oder der belesenen und imformierten Musikliebhaber (etwa in diesem Forum hier) erfährt. Es sind Leute, die Musik eher mit dem Bauch wahrnehmen denn mit dem Kopf.

Naja, bei aller Relativierung und eigentlich gemeint sein: Es wurde schon explizit gesagt, dass diese „ungebrochenen Schreckensbiographien“ nicht selten „hier“ zu finden seien. Die ja klarerweise – imho, selbstredend – ein kopfgeborenes Zerrbild sind, und es wundert jedenfalls mich nicht, dass etwaige Motive eines solchen Handelns dann nicht verstanden werden können: Ist es doch eher die Kehrseite des eigenen Denkens als eine Beschreibung der Welt, ein notwendiges Negativ, auf dem sich ein eigenes Profil und Selbstbild scharf konturieren lässt – „Ich verstehe das einfach nicht!“ heißt hier damit recht eigentlich: „Ich verstehe mich selber nicht“, und mehr noch: „Ich will es auch gar nicht“. Denn der Blick, der sich zunächst auf sich selber richten müsste, richtet sich auf ein letztlich fiktives „Anderes“. Das aber hockt perfiderweise auf der anderen Seite der Medaille und entzieht sich dem eigenen Blick damit zwangsläufig immer. Wenn ich da angelangt bin, steht es schon wieder hinter mir, in meinem Rücken. So oder ähnlich würde meine Fassung von Rossis Einlassung lauten, dass wohl als erstes einmal gekärt werden müsste, ob die formulierte Frage aller Fragen in dieser Form überhaupt auf einer passenden Wirklichkeitbeschreibung beruht, bevor man sich der Mühe unterzieht, Antworten darauf zu finden.

So wie du es nun schilderst, Mikko, sehe ich das erste Mal einen Ansatz, überhaupt ins Gespräch zu kommen – das dann aber eigentlich so spannend ja auch nicht ist, jedenfalls wenn es um Musik gehen soll. Denn bei dem von dir erwähnten Gefeiere geht es eben nicht um Musik in einem emphatisch-kulturellen Sinn. Da kann irgendein Schmonzes laufen, so lange sich alle darauf einigen: Kern der Aktivitäten ist vielmehr die Teilhabe an einem sozialen Organismus. Die was-auch-immer-„Musik“ ist lediglich ein Vehikel für die selbstvergessene Entäußerung des einzelnen Subjekts, durch die es in der Menge aufgehen kann. Für solcherlei soziale Erfahrungen muss das Ego gewissermaßen an der Garderobe abgegeben werden, nichts darf mehr peinlich sein. Deswegen ist ja die umfangreiche Nutzung der Enthemmungsdroge Alkohol dazu so typisch und in unserem abendländischen Kulturkreis mit den vielfältigen gesellschaftlichen Überformungen des zugleich dennoch extrem isolierten Subjekts geradezu unerlässlich. „Ich trinke, damit ich die, hm … sozialen Grenzen leichter überspringen kann,“ dies sagte einmal ein sehr guter Freund, meist kontrollierter Pegeltrinker seines Zeichens, zu mir – sehr erhellend, wie ich fand. Und übrigens wird der Orgasmus ja auch häufig als „kleiner Tod“ (des Ichs) beschrieben, daher wohl auch die Sex-Assoziationen.

Dass dann eine Musik besonders passt, die zum einen den kleinsten gemeinsamen Nenner bieten kann – günstigerweise kennt sie jeder Teilnehmer des sich bildenden Gemeinschaftserlebbnis, das dient als Nähe-„Kitt“, zur Bildung eines vertrauten Bodens, Fremdes wäre zu erschreckend in der entblößten Situation einer Entgrenzung – und zum anderen auf atavistische, vor der Ich-Bildung liegende Empfindungen rekurriert – vielleicht mit positiv entgrenzenden Gefühlen bspw. aus der Kindheit oder frühen Adoleszenz besetzt oder zumindest so simpel, das es buchstäblich jedes Kind verstehen kann („das ist der Rhythmus, bei dem jeder mitmuss …“) -, liegt eigentlich auf der Hand. Den Kern eines nostalgischen Empfindens trifft das aber nicht, will mir jedenfalls scheinen. Nostalgie geht anders, glaube ich.

Und es kommt mir ehrlich auch nicht wie ein Aspekt vor, der als Anlass für eine Diskussion über musikalische Wertsetzungen dienen könnte, das ist einfach eine unpassende Kritik-Kategorie für Vorgänge dieser Art.

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The only truth is music.