Re: Die Übermacht der Nostalgie in der Wahrnehmung von Popmusik

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herr-rossi
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Vorweg in Kurzfassung meine Sicht: Ich teile die Ansicht, dass man musikalische Vorlieben der Kindheit und Jugend nicht ungeprüft aufrecht erhalten sollte – wenn man sich denn ernsthaft mit Musik beschäftigt bzw. sich an Diskussionen über Musik beteiligt. Die Bewertung von Musik darf sich nicht in der biographischen bzw. nostalgischen Dimension erschöpfen. Und selbstverständlich gibt es Hörerbiographien, die sich irgendwann darin erschöpfen, die keine Weiterentwicklung kennen, sondern bei denen Pop zu einem Nostalgiefaktor geworden ist.

Das ist nicht mein Punkt. Wenn wir von einem Musikhörer ausgehen, der ein lebendiges Interesse an Musik hat, der sich weiter entwickelt, der neues entdeckt: Wieso muss er sich von einem Kritiker (unabhängig von der Person) den Vorwurf der „Selbstentblödung“ gefallen lassen, wenn ihn eine Musik, die ihn in jungen Jahren geprägt hat, auch heute noch begeistert bzw. sie ihn zumindest nicht „anekelt“ oder ähnliche negative Gefühle verursacht. Da geht es doch um Deutungshoheit: Der Kritiker sagt, wenn der Hörer damals Stones gehört hat und heute auch noch – bestens, alles in Ordnung. Aber wenn der Hörer immer noch Bap schätzt oder AC/DC oder Marillion (um nur einige lebensnahe Beispiele zu nennen) und dies auch artikuliert, dann ist es ein Akt der „Selbsterniedrigung“. Das ist eine andere Aussage, als wenn der Kritiker nur feststellen würde, dass eine bestimmte Band für ihn indiskutabel sei, was den Hörer vielleicht ärgern würde, aber womit beide leben könnten und worüber beide diskutieren könnten. Aber der Kritíker verlangt vom Hörer Aufklärung, Einsicht, Einkehr. An diesem Punkt wird die Diskussion aus meiner Sicht autoritär. Edit: Die Begriffe „Selbstentblödung“ und „Selbsterniedrigung“ enthalten schon sehr starke, verletzende Wertungen, geradezu moralische Urteile. Wenn man sein Gegenüber argumentativ erreichen will, dann ist das ganz bestimmt der kontraproduktive Weg.

Wolfgang Doebeling
Was „damals“ von wem auch immer für „Schund“ und „Kitsch“ gehalten wurde, tangiert meine Argumentation nicht. Meine Sicht, das weißt Du wohl, ist eine fundamental andere, ja gegensätzliche, weil nicht aus Vorurteilen und Ängsten gespeiste, sondern aus Wissen und Ekel.

Wissen ist ein Faktor, den ich hoch einschätze. Da ist ein Gefälle, dass ich als objektiv gegeben akzeptieren kann. Größere Hörerfahrung, größeres Wissen um Hintergründe und Zusammenhänge, intensivere Auseinandersetzung mit Kritik und Gegenkritik: Ein uneinholbarer Vorsprung.
Ekel ist dagegen für mich ein rein emotionaler Faktor, eine Überwältigung durch Gefühle. Was Dich anekelt, muss und kann für mich kein Maßstab sein, ebensowenig, was Dich begeistert und in Euphorie versetzt. Das ist rein subjektiv. Ekel ist kein Ausdruck von Wissen und Reflexion.

Von dort aus auch allen Anderen „sicheren kindlichen Instinkt“ zuzubilligen ist indes so tolerant wie ignorant. Demgemäß gäbe es ja dann überhaupt nur noch lineare Musikrezeptionen, die von frühester Jugend an auf Genialität setzen, von keinerlei Irrtum angekränkelt, von keinem Fehlurteil auch nur für Momente aus der Bahn geworfen. Eine Illusion, siehe den überwiegenden Teil der Einlassungen im Forum.

Es war von mir nicht absolut gemeint. Natürlich hat mir als Kind auch Musik gefallen, die für mich heute keinen besonderen Wert mehr hat. Aber ich halte es nicht für illusorisch oder ignorant zu vermuten, dass auch die positive Saat schon in der Kinderzeit gesät wird. Ich halte die kulturell „verpfuschte Kindheit“, die durch einen Kraftakt der Emanzipation ausgeglichen wird, für ebenso selten wie jugendliche „Genialität“. Biographien sind allgemein weniger durch radikale Brüche gekennzeichnet als durch langfristige Entwicklungen. (Ich spreche wohlgemerkt nur von Hörern, die auch als Erwachsene ein aktives, fortschreitendes Interesse an Musik haben.)

für das weit verbreitete Phänomen, sich an die Resultate dessen zu klammern, was Du „kindlicher Instinkt“ nennst; was in Wirklichkeit aber ein Verhalten in früher Jugend ist, das eben nicht auf irgendeiner Selektion basiert, sondern das als gegeben annimmt, was aus dem Radio kommt, aus der elterlichen Musiktruhe, aus der schwesterlichen Boombox oder aus ähnlich generierten Musikquellen von nachbarschaftlichen Peer Groups. Anders ausgedrückt: der Weg eines Heranwachsenden durch das Dickicht des erreichbaren Musikangebots ist für gewöhnlich dornig und holprig, heute mehr als vor 40 oder 50 Jahren. Und wenn gepflastert, dann eher mit Boney Ms als mit Beach Boys, eher mit BAPs als mit Byrds. Hierzulande, meistens. Du bist die Ausnahme, Rossi. Wobei mir nicht ganz klar ist, wie man in Deinem Alter auf Elvis und Cliff kommen kann. In meiner Jugend waren das die populärsten Sänger, omnipräsent. Zum Glück. Aber in den 80er Jahren?

Ich wollte mich nicht zur Ausnahme stilisieren und natürlich habe ich hinreichend „Leichen im Keller“, keine Sorge. Natürlich war es auch Zufall, auf welche Musik ich damals gestoßen bin. Es waren Platten aus der (kleinen) Sammlung meines Vaters, nichts anderes. Platten, die er sich als Jugendlicher nicht leisten konnte und die er nachgekauft hatte, aus nostalgischer Reminiszenz – also eigentlich verwerflichen Gründen? Aber ich habe sie mir genommen, habe sie angehört und die Musik für mich entdeckt, habe die spärlichen Liner Notes studiert und mir sonstwie versucht, auf das Gehörte einen Reim zu machen. Eine aktive Aneignung. Wer wirklich so musikvernarrt ist, dass er dauerhaft hier in einem solchen Forum landet, der war das schon sehr früh. Der war nie jemand, auf den Musik einfach eingeprasselt ist. Eine solche Vorstellung rein passiver Kulturaneignung in der Kindheit und Jugend finde ich falsch, die dürfte einer empirischen Überprüfung auch nicht standhalten.

Man hat bzw. hatte mit 12 oder 14 natürlich nicht die Möglichkeiten, sich frei zu informieren. Heute sieht das anders aus im Zeitalter des Internets. Wenn ich diese Möglichkeiten damals schon gehabt hätte.
(Fortsetzung folgt …)

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