Re: Die Übermacht der Nostalgie in der Wahrnehmung von Popmusik

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wolfgang-doebeling
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Okay, weiter also.
Die PNs zu den hier verhandelten Fragen werde ich übrigens nicht auch noch beantworten, auch wenn einige durchaus schlüssige darunter sind, den meisten Beiträgen in diesem Thread argumentativ überlegen. Ich rege daher an, sie hierher zu verlagern und die darin enthaltenen Überlegungen öffentlich anzustellen. Danke.

Herr Rossi
Ich habe nicht gesagt, dass alle Erzieher damals so waren, aber ich kann Dir gerne die Flut von Aufklärungsschriften zeigen, in der besorgte Pädagogen sich gerade in den fünfziger und sechziger Jahren den Kopf zerbrachen über „Schund“ und „Kitsch“ und dessen verderblichen Einfluss auf die Jugend und die arbeitende Bevölkerung. Im 18. und 19. Jahrhundert gab es das auch schon und es wurde nahtlos fortgesetzt im Geiste von 68, als man Unterhaltungskultur als „eskapistisch“ und „affirmativ“ geißelte. Irgendwer trägt immer Bedenken, mit den allerbesten Absichten natürlich.

Das ist das abendländische „Hochkultur“-Verständnis, das kann ich mit der Begeisterung für Popmusik nicht in Einklang bringen.
Ich muss dabei tatsächlich an Wolfgangs Schilderung denken, wie ein autoritärer Pauker ihm an der Tafel durchdeklinierte, warum „Satisfaction“ Dreck ist. Der Mann hatte genau den gleichen Kulturbegriff. Für mich ist die Folgerung daraus, dass man mit der Absolut-Setzung von Kultur auf dem Holzweg ist. Kultur ist Diskurs, ist Kommunikation zwischen Menschen. Das absolute, autoritäre Kunstwerk ist eine esoterische Vorstellung.

Die von Dir so gern ins Feld geführten autoritären Pädagogen in grauer Vorzeit waren Gralshüter der Macht, mindestens ihrer eigenen. Sie vertraten und verteidigten ihre Deutungsherrschaft, um ihre persönliche Stellung nicht zu gefährden, letzlich aber, um den Status Quo der jeweiligen Machtverhältnisse zu zementieren. Ganz im Gegensatz zum „Geist von ’68“ natürlich. Es ist mir schleierhaft wie man da eine „nahtlose Fortsetzung“ konstruieren kann. Immerhin ging es beim Kulturbegriff der sogenannten 68er ja um die Aufweichung von Verkrustungen, die Umdeutung der Werte. Ideologen und Spinner gab es natürlich auch. Die K-Gruppen-Fuzzis, mit denen ich seinerzeit zu tun hatte, führten Vokabeln wie „affirmativ“ und „eskapistisch“ tatsächlich im Munde, aber die waren fremdgesteuert. Ökonomisten wie Dutschke waren diesbezüglich vollkommen verknöchert, wohl wahr. Selbst bei den Jusos entgleiste mancher verbalradikal (aber die wollten nur mitspielen). Nun aber einer ganzen gesellschaftlichen, ungeheuer heterogenen Bewegung derlei Dogmata zu unterstellen, ist reichlich absurd. Die gesamte undogmatische Linke lebte mit den Stones, Hendrix, Dylan, etc. – einige vielleicht mit einem irgendwie schlechten Gewissen, viele aber sehr bewußt. Differenzierung tut also dringend not.
Dasselbe gilt für „das abendländische Kulturverständnis“, von dem in idealtypischer Form schon lange nichts mehr übrig ist. Das wurde in den letzten Dekaden zermürbt, in kleingeistigen Ghettos isoliert.
Herr Nau, besagter Pauker, reagierte deshalb fassungslos, weil er nicht nur mit etwas konfrontiert wurde, das seinen Kanon, seine ihm heilige Kulturhierarchie bedrohte. Sondern vor allem, weil er es nicht verstand. Er nannte mich „Jazz-Ratte“, ein hilfloser Ausdruck von Hass und Angst. „Jazz“, weil das für ihn Unmusik schlechthin war (er verortete den Ursprung von „Satisfaction“ im „amerikanischen Busch“!), „Ratte“ wegen der langen Haare („eine Schande, so etwas hätte man früher verboten“!). Ungeziefer, you know.
Der Umstand nun, daß Du mich bzw. meine Argumentation in die geistige Nähe dieses Tyrannen rückst, in die Nähe von K-Gruppen-Spinnern, gar in die Nähe reaktionärer Pädagogik vorvergangener Zeiten, ist verräterisch. So blind schlägt nur jemand um sich, der sich selbst bedroht fühlt. Dabei war Dein Pop-Biedermeier gar nicht Gegenstand meiner ursprünglichen Frage. Allenfalls immanent. Insoweit, als es auch dort groß und klein gibt, ideenreich und dumpf, inspiriert und kalkuliert, gelungen und misslungen, genialisch und deppert. Ebenso wie auf musikalischen Gebieten, die Du nur vom Hörensagen kennst (Blues, Jazz, etc.) oder die Dir ein Graus sein mögen (Musik mit Haltung, Härte, Kompromisslosigkeit, ohne einschmeichelnde Momente: nur eine Vermutung meinerseits, ich kann mich täuschen).

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