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Sehr Amüsant, was WD hier zum besten gibt. Da redet ausgerechnet jemand, der sich ganz offensichtlich nie aus dem Umfeld des Pop lösen konnte, von musikalischer Weiterentwicklung. Bloß weil er sich ein paar nicht ganz so harmlose Melodien schön gehört hat, ja sogar schon mal eine Dissonanz erträgt, ist er jetzt der große Musikpapst, dem alleine die Deutungshoheit über die Qualität von Musik zusteht.
Wenn man sich musikalisch wirklich weiterentwickeln will, bedeutet das doch auch, endlich mal loszulassen vom heiß geliebten Muster „Gesang, Gitarre, Bass und Schlagzeug“. Und damit meine ich nicht, ab und an mal ein paar Bläser zu tolerieren. Diese Fixierung auf Popmusik ist auch nichts anderes als eine Form des Aufrechterhaltens einer Jugendsünde und steht dem propagierten Anspruch diametral entgegen.
Beschäftigen könnte man sich mit moderner E-Musik des 20. und 21. Jahrhunderts, von Arnold Schönberg bis Enno Poppe, um nur zwei Namen zu nennen. Das ist nämlich Musik, bei der ständig bemühte Terminus des „Erarbeitens“ endlich einen Sinn bekommen würde und deren Rezeption eine tatsächliche Weiterentwicklung des vormals reinen Popkonsumenten zumindest vermuten lassen könnte. Bei dem, was ich mir in den Roots-Sendungen so anhören durfte, habe ich ehrlich gesagt noch nichts gefunden, das jetzt über die Maße anspruchsvoll wäre. Zwar gab es da schon oft schöne Sachen zu hören, schließlich mag ich Popmusik ja auch sehr gerne, aber die große Kunst findet doch woanders statt.
Zu diskutieren wäre übrigens statt der elenden Vinyl-contra-CD-Geschichte mal, ob Töne, die vermittels Lautsprechern gehört werden und darüber hinaus gar von einem Tonträger stammen, überhaupt Kunst bzw. Musik sein können, oder ob echte Musik nur live entstehen kann und jede Wiedergabe durch technische Hilfsmittel nur ein virtuelles Abbild der echten, zeit- und ortsgebundenen Musik darstellt. Wobei natürlich erschwerend hinzukommt, daß die meisten Tonträger noch nicht einmal ein solches Abbild enthalten, da die zu hörende Musik ja niemals so stattgefunden hat, sondern erst durch das Zusammenschneiden von Tonschnipseln entstand (ich beziehe mich hierbei nur auf Musik, die Mittels traditioneller Instrument erzeugt wird, reine Computermusik ist wieder ein anderes Problem). Damit sind die Musiker entkoppelt von Dingen wie individuellem Ausdruck, etwas, das im traditionellen Kunstverständnis keine kleine Rolle spielt. Stattdessen wird Studiotechnik, werden Instrumente, wird der Klang allein bedeutend. Betrachtungen dazu wären deutlich spannender als der Nebenkriegsschauplatz um das beste Medium, zumal die meisten Menschen im Blindtest die Medien nicht unterscheiden können, zumindest nicht anhand „normaler“ Stereoanlagen.
Ebenfalls zu diskutieren wäre, ob Musik überhaupt eine Kunst ist. Das ist nämlich keineswegs so klar und eindeutig mit ja zu beantworten, wie sich das die Musikliebhaber hier im Forum wünschen mögen. Betrachten wir es mal historisch: angefangen hat alles mit Stimme und Rhythmus. Diese wurden eingesetzt im Rahmen kultischer Handlungen und kombiniert mit Tanz. Keineswegs war diese Musik vom Tanz zu trennen, so daß man sagen kann, sie stellte nur einen Unteraspekt einer Sache, die ich nicht als Kunst im Sinne von L’art pour l’art bezeichnen möchte, dar. Auch im antiken Griechenland war die Musik, wie wir sie heute sehen, selbst keine eigene Kunst, sondern stets Bestandteil anderer Kunstformen (man sehe sich dazu zum Beispiel die Zuständigkeiten der Musen an). Das zieht sich durch die gesamte Geschichte, bis das eben erwähnte Konzept der L’art pour l’art im 19. Jahrhundert aufkam.
Unterstellen wir der Musik einmal, sie sei tatsächlich Kunst, und gehen wir ruhig davon aus, daß Kant falsch lag, als er sie als die niederste der Schönen Künste ansah. Dann wären aber doch, damit jemand wie WD seine Urteile so absolut fällen kann, objektive Kriterien festzulegen, an denen sich die Qualität der Musik festmachen lassen kann. So etwas finde ich hier nirgens, WD fällt seine Urteile rein subjektiv. Versuche einer formalen Ästhetik der Musik gibt es genug, auf die man sich berufen könnte, um zu Urteilen zu finden, vom erwähnten Kant bis zu Adorno und darüber hinaus. Man könnte sogar eine eigene Ästhetik entwickeln, aber auch das muß auf einer theoretischen Basis passieren, die nachvollziehbar ist. Ein reines Aufzählen dessen, was man für gut bzw. schlecht hält, ist keine Theorie. Das sind nur Sinnenurteile, keine Geschmacksurteile. Was man schon daran erkennt, daß verschiedene Aufnahmen eines Stückes unterschiedlich bewertet werden, obwohl das Klangliche, also das über das formale, das kompositorische Hinausgehende dabei in den Mittelpunkt der Kritik gerückt wird. Bei einer solchen Kritik geht also darum, wie eine Darbietung empfunden wird, nicht mehr darum, ob die Komposition objektiv gut ist. Wenn es aber um das Empfinden von Musik geht, kommen wir in den Bereich des Subjektiven. Das hat nichts mehr zu tun mit einer intellektuellen Annäherung an die Musik, sondern mit einer rein körperlichen. Dies zeigt sich u.a. daran, daß WD oft von körperlichen Phänomenen wie Übelkeit schreibt, die ihn beim Hören bestimmter Musik befällt. Und so lassen sich Urteile, wie sie WD fällt , nur noch als Arroganz eines absolutistischen Körpers gegenüber anderen deuten.
Ein weiteres Indiz für die relative Subjektivität der Doebelingschen Urteile ist seine Idee, daß zum Erkennen guter Musik biographische Nähe notwendig sei. Aber wenn Elvis objektiv gut war, dann ist er es bis heute. Und dann kann man auch als Nachgeborener Elvis hören, ohne sich deswegen fragen zu lassen, wie man dazu käme. Wäre es anders, so wäre jeder, der heute beispielsweise Bach schätzt, ja ebenfalls suspekt. Andersherum hat WD ja begriffen wie unsinnig die Dauer des Lebens als Kriterium für das Maß der Fähigkeit, Musik qualitativ zu gewichten, ist, denn er sagt ja nicht etwa, daß ein zu hohes Alter vor dem Erkennen guter, aber neuer Musik schützen sollte (was aber leider allzu oft der Fall ist).
WD rein körperlicher Ansatz der Betrachtung von Popmusik ist ihrem Objekt zwar absolut angemessen, denn unter formalen Aspekten geben selbst die progressivsten Formen des Pop nicht viel her (und noch viel weniger z.B. Johnny Kid & The Pirates), das sie bedeutend machen würde, aber wenn man zu diesem Schluß gekommen ist, dann sollte man auch konsequenterweise Abstand nehmen von jeder Form des Absolutismus bei der Beurteilung. So groß, wie WD es gerne hätte, ist der Unterschied zwischen den Stones und Toto letztlich nicht, wenn man es formal betrachtet. Das Rad haben beide Bands nicht neu erfunden, beide bewegen sich innerhalb der relativ engen Grenzen des Pop. Letztlich ist der Unterschied eben doch nur so groß wie der zwischen den Hanni & Nanni Büchern und denen von Hera Lind, um den Vergleich noch einmal aufzugreifen. Von Goethe sind beide in etwa gleich weit entfernt, dessen sollte man sich ruhig bewusst sein. Auch mir gefallen die Stones zwar um Welten besser, aber die physiologische Wirkung von Musik auf einen bestimmten Hörer lässt sich nun einmal nicht postulieren, und wem Toto besser oder gleich gut schmeckt, bitte sehr, was soll’s, dann bevorzugen wir eben unterschiedliche Sounds.
Doch haben auch subjektive Urteile durchaus, und das grade im Bereich der Popmusik, ihren Wert, besonders, wenn die Vorlieben des wertenden Subjektes allgemein bekannt sind. Man kann dann als Leser oft schon einordnen, ob die eigenen Sinne durch die betreffende Aufnahme eher positiv oder negativ gerührt werden. Diese Sinnesreizung hat aber mit der Qualität der Musik erst mal nichts zu tun, oftmals ist sie sogar abhängig von außermusikalischen Umständen. Das lässt sich beispielsweise gut bei Festivals beobachten, wenn Menschen plötzlich aufgrund der heftigen Sinnesreize zu einer Musik feiern, die ihnen eigentlich nicht liegt. Oder wenn alte, früher heißgeliebte Platten stetig negativer beurteilt werden, weil neuere Alben desselben Künstlers vermeintlich nicht mehr die Qualität von damals zeigen. Oder an den gar nicht so seltenen Fehleinschätzungen von Platten beim ersten Hören.
Musik hat viele Berechtigungen. Sie kann Transportmittel für politische Botschaften sein, wie man an den Heldenliedern der Antike genauso sehen kann wie an vielgeschmähten Liedermachen, und muß dann natürlich ganz anderen Ansprüchen genügen als Musik, die kultischen Zwecken dienen soll und die daher teils hymnisch, teils fast ganz auf Rhythmen reduziert daherkommt, oder solche, die nur jemanden ins Bett bekommen soll. Nicht jede Musik nämlich versteht sich selbst als sich selbst genügende Kunst, und man sollte der jeweiligen Musik entsprechende Maßstäbe anlegen können.
Vor allem aber hat (Pop-) Musik heute für viele Menschen einen großen Zweck, und der ist, sie glücklich (oder zumindest weniger unglücklich) zu machen. Und während mich (und WD und viele andere) das Hören der Musik von Pur eher zum Schreien bringt, gibt es doch scheinbar eine Menge Menschen, die davon erbaut werden. Das muß man nicht unbedingt nachvollziehen können, aber man sollte in der Lage sein, diesen Menschen ihr Glück zu gönnen. Bekehrungsversuche sind unsinnig, da es sich bei der Popmusik eben um ein letztlich nicht objektiv qualifizierbares Phänomen handelt. Trotzdem kann man natürlich Hinweise geben, was es an Schönem noch zu entdecken gibt, aber doch nicht im dem Jargon, dessen sich WD hier bedient. Zwischen einer klaren Aussage und einer klaren Beleidigung bestehen doch Unterschiede. Und von WD werden Menschen, die nicht seinen Geschmack teilen oder gar Musik zu anderen Zwecken hören als er selbst, zu niederen Kreaturen, mindestens aber zu Psychopaten degradiert. Das beweist vor allem aber das eine: auch ein Mensch mit großen Wissen kann völlig ungebildet sein. Seiner Fähigkeit zur Arroganz schadet der Mangel an Bildung aber nicht…
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And all the pigeons adore me and peck at my feet Oh the fame, the fame, the fame