Startseite › Foren › Kulturgut › Das musikalische Philosophicum › Die Übermacht der Nostalgie in der Wahrnehmung von Popmusik › Re: Die Übermacht der Nostalgie in der Wahrnehmung von Popmusik
Herr RossiIch projiziere nicht mehr als andere auch. Wenn Wolfgang hier seine Fensterreden hält, hat er ja auch recht plastische Bilder von bestimmten Verhaltens- und Denkweisen entwickelt, die er auf andere projiziert – der Schritt zum Stereotyp ist dabei nicht weit. Selbstverständlich macht es einen Unterschied, ob man Wörter wie „Schund“ oder „Kitsch“ verwendet oder „Scheiße“, weil sie sehr unterschiedliche Begriffsgeschichten haben. Eine solche Unterscheidungsfähigkeit fällt einem allerdings auch nicht in den Schoß, die muss man sich erarbeiten.
Was damals als Schund und Kitsch bezeichnet wurde, hat heutzutage durchaus seine auch erwachsenen und kritikfähigen Verehrer, denk an die Klassiker des Krimi und des Comics.
Ich verstehe jedenfalls die ganze Diskussion um „Jugendsünden“, von denen man sich gefälligst weiter zu entwickeln habe, nicht. Vieles, was mich als Kind und Jugendlicher begeistert hat, besteht für mich bei der Wiederbegegnung mühelos den Test, das gilt auch für Bücher, Filme und Serien. Manches dagegen erweist sich als veraltet oder nicht so gut, wie einst empfunden, das ist dann schnell abgehakt.
Kinder sind doch keine verstockten, empfindungsarmen Wesen, die erst durch sittliche Reifung und Bildung das Gute, Wahre und Schöne erkennen können. Das ist tatsächlich die Auffassung der „schwarzen Pädagogik“. Ich liebte als Kind Donald Duck, Catweazle, Herrn Rossi (Überraschung!) und Jim Knopf, bekam nicht genug von der Kunst eines Wilhelm Busch und malträtierte meine Mitschüler mit Beach Boys, Elvis und Cliff Richard, wusste, dass Barclay James Harvest und Supertramp Langweiler sind und ABBA und Blondie jederzeit vorzuziehen, hielt mich von Deutschrock a la Bap und Maahn fern – und das alles ohne das mir irgendjemand erklärt hätte, warum das richtig ist. Musste ich mein Geschmacksurteil irgendwann grundsätzlich revidieren? Nein. Ich kann heute vielleicht besser erklären, was mich anspricht und was nicht, habe mehr Vergleichsmöglichkeiten und ein größeres Wissen, aber das vertieft die kindliche Bewunderung häufig nur.
Und diesen sicheren kindlichen Instinkt billige ich auch jedem anderen zu, auch wenn ich seine Präferenzen nicht teile. Ich fühle mich nicht persönlich angesprochen, aber all der ganze argumentative Aufwand, um erwachsenen Hörern von „Deutschrock“ ins Gewissen zu reden, das ist doch recht albern.
Die in meiner neuerlichen „Fensterrede“ (dabei stand ich auf dem Balkon, um den Jubel der Massen besser goutieren zu können) verwendeten Projektionen einer „ungebrochenen Schreckensbiographie“ sind freilich stereotyp. Das entwertet sie jedoch keineswegs. Darin aufgehoben sind repräsentative Versatzstücke vieler (auch hier) thematisierter Biographien. Nenne mir eine Stelle, die Du für frei erfunden hältst und ich zeige Dir jeweils mehrere Bekenntnisse von Forums-Usern, die darauf hinauslaufen. Wohlgemerkt: keine Einzelfälle.
Was „damals“ von wem auch immer für „Schund“ und „Kitsch“ gehalten wurde, tangiert meine Argumentation nicht. Meine Sicht, das weißt Du wohl, ist eine fundamental andere, ja gegensätzliche, weil nicht aus Vorurteilen und Ängsten gespeiste, sondern aus Wissen und Ekel.
Mag sein, daß „viele“ Deiner früheren Vorlieben „mühelos“ den test of time bestehen und daß Du den Rest halt abhakst. Mir ging es aber um den gegenteiligen Fall: kaum etwas besteht diesen test of time, abgehakt wird dennoch nichts.
„Verstockte Kinder“, „schwarze Pädagogik“? Hat alles mit meiner Balkonrede nichts zu tun. „Sicherer Kinderinstinkt“? Den hast Du bewiesen, als Du Dich mit Cliff, Elvis und den Beach Boys vertraut gemacht hast. Von dort aus auch allen Anderen „sicheren kindlichen Instinkt“ zuzubilligen ist indes so tolerant wie ignorant. Demgemäß gäbe es ja dann überhaupt nur noch lineare Musikrezeptionen, die von frühester Jugend an auf Genialität setzen, von keinerlei Irrtum angekränkelt, von keinem Fehlurteil auch nur für Momente aus der Bahn geworfen. Eine Illusion, siehe den überwiegenden Teil der Einlassungen im Forum.
Du kannst Deine Vorlieben heute besser begründen als früher, schreibst Du, aber es seien dieselben geblieben. Je mehr Du über Deine Musik herausfindest, desto vertiefter die kindliche Bewunderung. Weil Du ja BAP und Maahn außen vor gelassen hast. Ein bemerkenswerter Fall früher Reife, man gratuliert. Du fühlst Dich deshalb nicht angesprochen. Mischst Dich aber trotzdem ein, weil Du wähnst, mir ginge es darum, gegen Deutschrock zu wettern. Weit gefehlt. Beispiele nur, so wie Boney M oder Milli Vanilli oder „We Will Rock You“, für das weit verbreitete Phänomen, sich an die Resultate dessen zu klammern, was Du „kindlicher Instinkt“ nennst; was in Wirklichkeit aber ein Verhalten in früher Jugend ist, das eben nicht auf irgendeiner Selektion basiert, sondern das als gegeben annimmt, was aus dem Radio kommt, aus der elterlichen Musiktruhe, aus der schwesterlichen Boombox oder aus ähnlich generierten Musikquellen von nachbarschaftlichen Peer Groups. Anders ausgedrückt: der Weg eines Heranwachsenden durch das Dickicht des erreichbaren Musikangebots ist für gewöhnlich dornig und holprig, heute mehr als vor 40 oder 50 Jahren. Und wenn gepflastert, dann eher mit Boney Ms als mit Beach Boys, eher mit BAPs als mit Byrds. Hierzulande, meistens. Du bist die Ausnahme, Rossi. Wobei mir nicht ganz klar ist, wie man in Deinem Alter auf Elvis und Cliff kommen kann. In meiner Jugend waren das die populärsten Sänger, omnipräsent. Zum Glück. Aber in den 80er Jahren?
Muß jetzt aber weg, mache morgen weiter.
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