Re: Die Übermacht der Nostalgie in der Wahrnehmung von Popmusik

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herr-rossi
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Ich habe überlegt, ob es sich lohnt, diesen Disput fortzusetzen, aber hier waren einige Fragen und Vorwürfe offen, zu denen ich mich doch äußern möchte. Mich überrascht es nicht, dass Du in wenigen Zeilen von „ungebrochene Schreckensbiographien“, „Selbsterniedrigungen“ und „Dauerentblödungen“ schreiben kannst und das von Dir als solches postulierte Problem wenig später an die Psychoanalyse weiterreichst, um dann, wenn eine Gegenmeinung nur etwas schärfer formuliert wird und ebenfalls in die Trickkiste der Stereotypen greift, Dich beleidigt zu geben – dergleichen ist dann „reine Demagogie“, „infame Dreistigkeit“ und „perfide Unterstellung“. Dabei ging es mir doch nur um eine Analogie, nicht mal um einen Vergleich. Um eine an und für sich harmlose Analogie noch dazu, nicht wahr …

Am bezeichnendsten ist der Vorwurf der Demagogie. Kritik an Deinen Dogmen (oder freundlicher gesagt: Lehrmeinungen) kann offensichtlich gar nichts anderes sein als das dumpfe Übelnehmen derer, die von Dir angegriffen werden, bzw. die Wortführerschaft für diese „schweigende Mehrheit“. Bei den Kritikern handelt es sich natürlich um „Detektive“ (warum nicht gleich „Schnüffler“?), die Deine Meinungsäußerungen auf Beweismaterial abklopfen. Shake it, Wolfgang: Du bist Publizist, Du veröffentlichst Deine Meinungen, diese Meinungen werden gelesen, sogar aufmerksam, und der Leser setzt sich dazu ins Verhältnis. Ich auch, genauso wie die meisten hier. Nicht mehr und nicht weniger.

Aber zur Sache: Du findest die Begriffe „Schund“ und „Kitsch“ verräterisch? Wofür? Verwendet hast Du sie durchaus schon in gleicher Angelegenheit, sie sind nicht erst von mir in Deine Argumentation eingeführt worden. Die Thematik wird von Dir schon seit Jahren verfolgt. Dass es schon der Stones bedurfte, um Deine Lehrer wirklich in Unruhe zu versetzen, glaub ich Dir gerne, es ändert an meiner Argumentation nichts. Vielleicht insoweit, als dass Du anscheinend ein schärferer Präzeptor bist als Deine alten Pauker, wenn diese sich an den Hörgewohnheiten sonst nicht weiter störten, während es Dich regelmäßig in Wallung bringt. Davon unbeschadet ist in der Pädagogik und in der Schul- und Bildungspolitik der Nachkriegszeit die Frage des schädlichen Einflusses der Unterhaltungskultur auf die Entwicklung der Jugend sehr wohl thematisiert wurde, ob das nun die Lehrer im Schulalltag tangierte oder nicht. Das lässt sich an zahlreichen Publikationen leicht zeigen.

Und das ist alles nicht weit weg von dem, was Du hier postulierst. Der Unterschied liegt allein in der Definition dessen, was denn als „mindere Kunst“, „Schund“, „Kitsch“, „banale Fließbandproduktion“ (oder wie auch immer die Umschreibungen lauten) zu gelten hat und was nicht. Seinerzeit bestand dass Bildungsziel der Schulen und der Erwachsenenbildung darin, die Zöglinge von der „seichten Unterhaltung“, der „U-Musik“ hinauf zu führen zur E-Musik, zur Klassik, zum abendländischen Kultuererbe. Da galten Elvis und die Stones genauso wenig wie Peter und Conny. Vermutlich meinst Du das mit dem antiquierten Bildungskanon. Bei Dir werden aber nur die Inhalte ausgetauscht, das Konzept bleibt das Gleiche. Der „subversive Lärm“ der Stones und der Sex Pistols als kanonisiertes Bildungsgut, als das neue Wahre, Schöne und Gute, zu dem sich der Musikhörer emporentwickeln solle.

Nun redet ja niemand dagegen, dass musikalisches Urteilsvermögen und die Fähigkeit zur selbständigen Weiterentwicklung ein Bildungsziel ist und sein sollte. Das grundsätzliche Problem ist, dass Du subjektiv (kraft Deiner inhaltlichen Autorität) definierst, welche Musik diskutabel und welche indiskutabel ist, und zwar nicht nur für Dich, wer wollte Dir das verwehren, sondern allgemeingültig. Du beanspruchst die Deutungshoheit. Und die wird von Dir robust verteidigt. Wer sich öffentlich zu einer von Dir als indiskutabel kategorisierten Musik „bekennt“, „trotzig“ natürlich, muss sich fragen lassen, was ihn zu einer solchen „Selbstentblödung“ und „Selbsterniedrigung“ treibt. Der wird Gegenstand von soziologischen Erörterungen, ist möglicherweise sogar ein Fall für die Psychoanalyse. Nur rhetorische Zuspitzung?

Wenn dies Widerspruch hervorruft, dann ist es natürlich der Widerspruch der Kleingeister, der Provinziellen, der Populisten, der Demagogen, der politisch Korrekten, die Toleranz rufen und Bequemlichkeit meinen, wo es doch um Größeres geht, um Wichtigeres, Erhabeneres, nämlich die von Dir als solche definierte Kunst.
Genau hier wird Deine Autorität autoritär und selbstreferentiell, werden Deine Dogmen durch Stereotypisierungen, Polemisierungen und Unterstellungen (der Populismus-Vorwurf) gegen Kritik imprägniert. Ein sehr effektives Vorgehen, aber intellektuell zutiefst unbefriedigend.

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