Re: Die Ãœbermacht der Nostalgie in der Wahrnehmung von Popmusik

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Gang of One

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„Autoritär“ ist hier wohl ein missverständlicher Ausdruck, otis. Das Kunstwerk hat ja keinen Willen, dem man sich unterordnen soll, sondern eine Beschaffenheit und Bezüge zu anderen Werken und zur Welt. Die kann man zu verstehen versuchen, ihrer inneren Notwendigkeit nachspüren (und darüber kann man mit anderen Leuten diskutieren, die das Werk ähnlich oder anders verstehen). Oder man kann es einfach darauf abprüfen, ob es den eigenen Vorlieben entspricht („Ich mag es!“) oder nicht entspricht („Ich mag es nicht!“) – das ist es, was die meisten Leute meistens tun. Und natürlich wird Musik gerne als Psychostimulanz, Droge oder zur Erzeugung von Stimmungen verwendet und nicht als Werk betrachtet. Warum auch nicht, wenn man sich nur ab und zu bewusst macht, dass ein solcher Gebrauch allein nicht ausreicht, um ästhetische Urteile zu begründen.

Die Diskussion hat sich ein ganzes Stück vom Ausgangspunkt entfernt, aber ich denke, dass die Ausgangsfragen mittlerweile beantwortet sind. Um es mal grob zu vereinfachen: Warum verteidigen Leute „schlechte Musik“ aus ihrer Jugend? Weil sie die eben nicht für schlecht halten – ihnen gefällt sie ja, und das ist für sie das Kriterium dafür, dass sie gut ist. Warum entwickeln sie sich nicht weiter? Weil sie keinen Grund dafür sehen, kein Ungenügen verspüren; sie genießen ja weiterhin das, was sie bisher genossen haben. (Andere entwickeln sich weiter, ohne das Alte aufzugeben, weil sie schon als Kind gute Musik gehört haben.) Warum hat Musik einen anderen „Nostalgiewert“ als Literatur oder Film? Weil sie der Soundtrack zu unserem Leben ist. Ein Popsong kann sich leicht mit einem Moment, einem Gefühl, einer Stimmung verbinden, mit Erlebnissen und Erfahrungen. Später bringt er die Erinnerungen zurück, und diese Erinnerungen werden beim Hören genossen, nicht nur die Musik selbst.

Nachtrag:
Die alten Lieder sind also mit Erlebnissen, Erinnerungen, Emotionen verbunden und haben durch Assoziation die Fähigkeit erworben, ein „Lebensgefühl“ hervorzurufen. Wenn sie gespielt werden, hört man den süßen Vogel Jugend zwitschern. Das trägt dazu bei, dass man die Musik genießt; und was Genuss bereitet, das findet man gut. Wenn man nun „trotzig“ darauf beharrt, liegt das meist an der Gesprächssituation: Hat man gerade seine Freude ausgedrückt, lässt man sich nicht gern von „Besserwissern“ sagen, das „Zeug“ sei völlig wertlos; man wehrt sich gegen den Vorwurf der „Geschmacksverirrung“.

Bei der Analogie zur Kinder- und Jugendliteratur sollte man nicht nur bedenken, dass Musikhören anders funktioniert als Lesen. Es kommt hinzu, dass Popmusik für alle da ist und von Menschen jeden Alters gehört wird. Bei der Jugendliteratur wird gesellschaftlich erwartet, dass man da „herauswächst“, aber bei Popmusik gibt es solche Erwartungen nicht mehr. An der Musik, die man in jungen Jahren gehört hat, festzuhalten oder sie hinter sich zu lassen, ist eine ganz individuelle und insofern zufällige Angelegenheit.

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To Hell with Poverty