Re: Be Here Now – Wie wichtig ist Euch Aktualität?

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Gang of One

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Dick LaurentEs geht mir also um die Musik, da weniger um die Komposition, sondern um das, was man hört. Die Aufnahmen der 60er klingen eben nach 60er, die der 70er klingen nach 70er, die der 80er nach 80er – das liegt wohl an Instrumenten, Aufnahme- und Produktionsmethoden. Und daher klingt es „alt“, unzeitgemäß. Das mag für mich aufgrund meiner Prägung für die 80er kein Problem sein (und damit für ältere Semester auch ausgeweitet auf die 70er oder 60er) – warum allerdings 20jährige sich für diese Zeiten begeistern und den Musikkontext zu ihrer Generation dadurch vernachlässigen, das bleibt mir seit 25 Jahren ein Rätsel!

Das sind doch bloße Soundvorlieben, die so oder anders ausfallen können. Wenn ein Teenager heute zum ersten Mal einen „psychedelischen“ Gitarrensound der Sixties hört (mit Phasing oder wie die Effekte alle hießen), warum sollte er dann nicht einfach sagen: „Wow, geiler Sound!“ Dass diese Musik anders klingt als das zeitgenössische Zeugs, kann für ihn gerade reizvoll sein. Was 1967 neu und aufregend war, kann vierzig Jahre später noch genauso wirken – für junge Leute, die es zum ersten Mal hören (gilt natürlich nur, wenn es nicht längst vom Dudelfunk getötet worden ist).
(Ich habe als Teenager Ende der 80er Jimi Hendrix für mich entdeckt. Diese Musik klang für mich wohltuend anders als das Zeug in den Charts, das ich nicht mochte, aber keineswegs angestaubt. Heute empfinde ich so manches aus den Sixties als angestaubt, Hendrix aber immer noch nicht. Das hängt auch von der Qualität der Musik ab, der Art des Sounds usw.)

Dick LaurentPop kann nicht ohne Zeitbezug gesehen werden, und der eigene Kontext zu vergangenen Zeiten bleibt immer improvisiert und konstruiert.

Ältere Musik entstammt einem anderen kulturellen Kontext, aber das kann bei zeitgenössischer Musik ja auch so sein. Wenn ich heute HipHop höre, kommt diese Musik auch aus einer anderen Lebenswelt – ich war noch nie in der Bronx oder in Brooklyn oder in South Central, Los Angeles. Ein Teil des Slangs und manche Inhalte müssen mir deshalb unverständlich bleiben, aber der Sound der Musik selbst kann diese Grenze überschreiten (die Beats vor allem, aber auch der Flow). So ist es auch bei älterer Musik. Eins meiner Lieblingsalben ist Fun House von The Stooges. Das ist 1970 erschienen, da war ich noch nicht auf der Welt – aber die Energie der Aufnahmen packt mich unmittelbar. Ich muss mir keinen Bezug zu dieser Platte „konstruieren“; ich muss einfach nur den Volume-Regler weit genug aufdrehen. Wenn ich mich dann näher mit dem kulturellen Kontext befasse, aus dem das Album stammt (durch Lektüre, Filme usw.), dann vertiefe ich mein Verständnis des Werks, aber ich stelle nicht erst den Bezug dazu her.

Das führt dann zu folgendem Einwand:

Carrot FlowerLernt man ältere Musik erst Jahre oder Jahrzehnte später kennen, fehlt der Zugang. Dass man solche Musik lieben kann, keine Frage. Aber gerade bei Musik, die herauskam, bevor man geboren wurde, fehlt einem einfach die Einordnung in die Lebenswelt der damaligen Zeit und somit auch ein echtes Verständnis dafür, was die Musik damals ausgelöst hat.

Fun House ist da erstmal ein Sonderfall: Die Platte hat 1970 so gut wie nichts ausgelöst; kaum jemand hat die Platte gekauft, sie war jahrelang ein Geheimtipp – und diejenigen, die sie gehört haben, haben dann 1975ff Punk-Bands gegründet. Punk und seine Vorgeschichte sind gut dokumentiert, da ist das Verständnis der Zeitumstände nicht so schwer zu erreichen.

Jede Platte entstammt einem bestimmten Kontext und hat darin ihre Bedeutung und Wirkung. Zu einer anderen Zeit, in einem anderen Kontext gehört, kann ihre Bedeutung und Wirkung nicht dieselbe sein. Das sieht man an Carrot Flowers Beatles-Beispiel
Gerade bei Musik, die sehr einflussreich geworden ist, kann man als Nachgeborener nicht mehr nachvollziehen, wie neu und unerhört sie einmal gewirkt haben muss. Soweit stimme ich zu. Es hängt aber von der Art der Musik ab, wie zeitgebunden sie ist. Fun House ist nicht nur ein Teil der Rockgeschichte, sondern eine Energiequelle, an der man sich immer wieder aufladen kann (wenn man entsprechend disponiert ist – Mucker stören sich vielleicht an den spieltechnischen Unzulänglichkeiten). In den Sound von Can (ein anderes Beispiel) kann man heute noch eintauchen, beim Beat von Jaki Liebezeit immer noch abheben.

Um auch noch das Rock’n’Roll-Beispiel aufzugreifen: In den Fifties hat selbst Bill Haley (!) Jugendliche dazu inspiriert, Konzertsäle zu zerlegen – für meine Ohren heute klingen Songs wie „Rock around the Clock“ nach besserem Schlager. Aber „Train kept a-rollin“ vom Johnny Burnette Trio reißt einen heute noch vom Sitz und manche Aufnahme von Little Richard wirkt immer noch wild und ungezügelt. Der schiere Sound dieser Platten vermittelt eine Ahnung davon, was Rock’n’Roll damals für viele bedeutet haben muss. Der Unterschied ist: Als Rock’n’Roll neu war, war auch das mittelmäßige Zeug aufregend; heute sind es nur noch die allerbesten Beispiele des Genres. Vieles von damals klingt heute angestaubt oder brav und hat einen Großteil seiner Wirkung eingebüßt – aber eben nicht alles.

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To Hell with Poverty