Re: Keith Jarrett

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Ich war in den letzten Tagen immer wieder bei den Impulse und ECM-Aufnahmen des American Quartet von 1975/76.

Manches in den Impulse-Aufnahmen von 1975/76 im „Mysteries“ 4CD-Set ist sehr toll, von Grooves bis zu impressionistischen freien Impros. Anderes wirkt etwas zerfasert… der absolute Fokus auf die Melodie gelingt nicht immer erfolgreich, manchmal wäre der Musik vielleicht geholfen gewesen, wenn andere Elemente (Form, Rhythmus, Farben, was weiss ich – siehe unten die Zitate aus Neil Tessers Liner Notes zur „Mysteries“-Box) etwas dominanter gewesen wären. Dagegenhalten könnte man dann aber, dass das dann die Identität der Band verraten (oder zumindest stark verändert) hätte.

Gemäss Neil Tessers Liner Notes zu „Mysteries: The Impulse Years 1975-1976“ war Jarrett indes schon 1975 klar, dass die Band ihre Pflicht bald getan haben würde. Dennoch gehören die drei Sessions vom Dezember 1975 – auf den beiden Alben „Shades“ und „Mysteries“ veröffentlicht – mit zum besten, was die Gruppe zustande gebracht hat.

Die zweiten Sessions vom Herbst 1976 sind deutlich schwächer – es fehlt die lenkende Hand Jarretts, deren Bedeutung für die Band möglicherweise erst in ihrer Abwesenheit richtig eingeschätzt werden kann. Jarrett liess für diese allerletzten Aufnahmen – schon die langen Sessions von 1975 dienten dazu, die Impulse noch geschuldeten vier Alben abzutragen – die Sidemen Musik mitbringen, die sie spielen wollten. Er selber brachte nur gerade zwei Stücke mit. Motians Stücke haben etwas leichtes, verspieltes, lyrisches. Das Highlight in Sachen Lyrismus ist allerdings Hadens auf „Bop-Be“ erstmals zu hörendes Original „Silence“. Redmans Stücke sind erdiger, direkter. Insgesamt fehlt der rhapsodische Zugriff Jarretts, der Überschwang, mit dem er auf den Sessions von 1973/74 in die vollen griff. Dafür hören wir viel schöne und relaxte Jarrett-Soli, er wirkt fast wie ein Trio-Pianist hier, weniger mit dem Gesamtergebnis beschäftigt als damit, selber ein tolles Solo zu „blasen.“

Der Höhepunkt ist dann wohl das erste ECM-Album, „The Survivor’s Suite“, das im April 1976 in Ludwigsburg im Studio eingespielt wurde. Hier spielt die Band keine kürzeren und längeren Stücke mehr (die Stücke der Impulse-Alben dauerten von 3 bis 23 Minuten) sondern eine durchgehende, 48minütige Suite, die langsam mit einem Beat erinnert, der an Yusef Lateefs orientalisch angehauchte Experimente der 60er Jahre erinnert (Haden greift ein simples Riff in einer hohen Lage, das auch von einer arabischen Laute stammen könnte). Jarretts Sopran und Redmans Tenor spielen dann eine schlängelnde Linie (irgendwann sind auch Overdubs im Spiel, es ist zugleich zu den beiden Saxophonen noch eine Flötenstimme – gespielt auch von Jarrett – zu hören). Jarrett improvisiert über den offenen Groove mäandrierend am Sopran, dann wechselt er ans Piano (die Flöte taucht aber bald wieder auf) und Redman bläst am Tenor weiter leicht orientalisch angehauchte Linien, die sich in ein schönes Solo steigern. Der Beat wird unterdesse fortwährend dichter, treibender. Wie in den Jazz-Rock-Experimenten von Miles Davis wird teils mit minimalen Riffs gearbeitet, werden verschiedene Teile abgewechselt, variiert und wiederholt, und es zieht sich stets Motians grundlegender Groove durch (dessen Akzentuierung sich allerdings manchmal verschiebt, von den Toms zum Hi-Hat. Die Musik entwickelt sich organisch, auf lautere Passagen (ein tolles Tenorsolo von Redman) folgen ruhigere, Jarrett und Haden sind zu hören, hinter letzterem wechselt Jarrett an die Celeste – was so tief wie sie im Mix ist gar nicht weiter tragisch ist. Dann folgt ein Thema von Redman und anschliessend (ab etwa 22:22) ein wunderbares Piano-Solo mit langen, tiefen, evokativen Bass-Tönen, Jarrett in bester frei-assoziierender und durchaus auch schwelgerischer Manier – es folgt Haden mit einem ähnlich ruhigen und schönen Bass-Solo. Der zweite Teil beginnt bewegt mit Redmans wohl intensivstem Solo der Scheibe, der Beat löst sich auf, Redman wird teils nur noch von Motian begleitet, steigert sich auch in ein paar vokale Schreie. Dann übernimmt Motian, bevor Jarrett wieder einsteigt und sich über einem schnelleren Beat erneut fast, aber nicht ganz, in die Zone spielt. Redman unterstützt die Rhythmusgruppe mit Perkussion, die Flöte taucht auch wieder auf, zudem ein zweiter, gestrichener Bass – schwer zu sagen, was hier mit Overdubs später ergänzt wurde, aber letztlich ja auch nicht von Bedeutung. Der Groove zieht sich unter einem weiteren wunderbaren Tenorsolo von Redman durch. Er spielt mit solider Phrasierung und einem leicht verhangenen, wunderbaren Ton (ich würde vermutlich nickend beipflichten, wenn mir jemand hier Byas-Einflüsse einreden wollte – siehe unten). Haden folgt nochmal, Jarrett ist tief im Mix, die Perkussionsinstrumente viel weiter vorn. Haden ist in diesem schnelleren Tempo bewegter, aber die Hauptsache ist wie immer sein Feeling, sein warmer Ton, die Direktheit, mit der er seine Geschichte erzählt. Dann löst sich der Beat auf, es folgt Jarrett am Sopransax (über seine eigene Flöte), begleitet von sparsamem, rhythmisch freiem Spiel Hadens. Dann folgt eine freie Quartett-Passage, in der Redman mit kantigem Ton Melodien spielt, später gesellt sich Jarrett am wild überblasenen Sporansax dazu, der Rhythmus festigt sich langsam wieder, fällt wieder in einen losen Groove, gestützt von Jarretts starken Motiven.
Ein grossartiges Album, das man wohl Dutzende Male hören kann, und immer wieder Neues hört und entdeckt.

Das oft (auch in diesem Thread) als Debakel beschriebene Konzert, das im Mai 1976 in Bregenz mitgeschnitten und auf ECM als „Eyes of the Heart“ herausgegeben wurde, fasziniert mich mit wiederholtem Hören immer mehr. Der von vorgarten immer wieder beschworene Moment des „Wartens auf Dewey“ im zweiten Teil, und die energetische Auflösung, als er endlich erscheint, ist in der Tat grossartig! Auch anderes, etwa Jarretts Sopransolo und dann die Übergabe an Redman in der Zugabe, sind sehr schön. Und wie Jarrett und die Rhythmusgruppe im Wartsaal in Teil 2 riffen, riffen, und weiterriffen, macht mir ebenfalls immer mehr Spass!
Das ganze mag ein Debakel (oder eher eine mittelprächtige Live-Aufnahme einer Band, die ihren Erwartung selten richtig gerecht wurde) sein, aber es macht dennoch Spass, gerade weil die Möglichkeit des Debakels bei dieser Musik eben dazugehört, stets mitgedacht werden muss.

Zum Thema Melodie zitiert Neil Tesser Jarrett in seinen Liner Notes zur Box „Mysteries: The Impulse Years 1975-1976“ folgendermassen:

All four of these musicians heard and admired many aspects of each other’s art. But the primary element linking them during these years was their reliance on melody, above and beyond such other musical considerations as color, harmony, form, or rhythm. […]
But as Jarrett points out, „If you’re a player who believes that melody is it, and that everything comes from that — that you can just fold up the tents if you don’t have the melody — then it would make no sense to work with guys who don’t know that too. And if I see that a guy has successfully played in Ornette’s band, then I know he has to have a strong relationship to melody because, in Ornette’s band, that’s all they’ve got to deal with, really — melodic form.
„I think that any great melody writer, in any kind of music, would immediately recognize another great melody person, even in other kinds of music. And if they had the choice, they would pick someone they wouldn’t have to explain such things to.“ For these reasons, Jarrett chose Haden and Redman. As for Motian: „Of all the drummers I’ve ever worked with, not a single one was more sensitive to melody than Paul.“

Diese Betrachtungsweise von Ornettes Musik scheint mir etwas gar eingeschränkt, selbst wenn man sie nur auf die frühen Quartett-Aufnahmen aus der Atlantic-Zeit bezieht. Auch da schon wurde mit Vamps und Grooves gearbeitet, der Swing, der Puls der Musik war zentral (mich dünkt viel zentraler – beweglicher, stärker, präsenter – als in Jarretts amerikanischem Quartett). Allerdings war (und ist) Melodie bei Coleman sicher ein absolut zentrales, vielleicht auch das zentrale Moment, insofern hat Jarrett nicht unrecht.

Tesser zitiert Jarrett auch über die „demokratische“ Organisationsform des american quartet:

The dichotomy between Jarrett’s American and Scandinavian quartets provides an important insight about the music heard here.
„One way in which it makes sense is that they were not so much two quartets but two vehicles for music I felt close to,“ Jarrett says now. „One band was better at some things, and the other was better at others, and I wrote differently for each band.“ In fact, Jarrett treated the Scandinavian quartet as something of a hierarchy, counting on his talented sidemen to follow where he led. But he approached his homegrown band differently, consciously recalling the classic ideals of the 18th century’s Great Social Experiment.
„The American band was the democracy: four sort of radical individualists who were willing to play together,“ he explains — hastening to add that this sort of philosophy may not define modern-day America at all. „They each thought their job was to do exactly what they wanted to, and in that context I was always aware of allowing as much freedom as possible for each person to do that. It was up to me to find a way for us to continue to play together, to use the strength of individual will that was there when everyone was playing well. I knew from the start that the tradeoff was going to be hard.
„I was writing for what the players did well,“ Jarrett continues, „and also for what they didn’t like to do very much.“ For example? „Charlie has never liked to play vamps,“ Jarrett offers, referring to open-ended sections of improvisation built on a recurring rhythmic-harmonic pattern. „He wanted to relate to the material in a very personal way all the time. He wasn’t somebody to get into a groove and just enjoy it simply because it was a groove.“ So for Jarrett, the challenge became a matter of choosing the right, relatively rare occasions on which to employ this technique.
But just as Haden disliked playing vamps, which by definition are harmonically limited, Dewey Redman had an aversion to playing on busy harmonic structures — tunes with a lot of chords. „Basically,“ Jarrett recalls, „he thought he was not as good at it as he really was. But I remember one night, at the Village Vanguard, it was the day that Don Byas died, and Dewey played a solo on a tune with chords. Usually he’d ignore the changes, but he got into the chords, and he became Byas that day, as sort of a tribute thing. The rest of us just stared at him and I said to myself, ‚Jesus Christ, he doesn’t realize some of the things he could really do.‘ He played the shit out of those chords.“ But for the most part, Jarrett knew not to expect from Redman the sort of bop-aesthetic harmonic analysis he could get from other saxophonists, and took this into account in his compositions for the quartet.

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