Startseite › Foren › Über Bands, Solokünstler und Genres › Eine Frage des Stils › Blue Note – das Jazzforum › Keith Jarrett › Re: Keith Jarrett
atomDas sehe ich auch so.
Zunächst mal hat jeder, der sich allein vor ein Publikum hinstellt oder hinsetzt und auf diese Art einen Abend bestreitet, meinen höchsten Respekt. Ein Solokünstler kann sich nicht, wenn er grade mal ein bisschen durchhängt, von seinen Mitmusikern tragen lassen oder sich für ein paar Minuten hinter ihnen verstecken. Ganz allein einen Spannungsbogen aufzubauen, der über zwei Stunden hinweg trägt, ist eine Konzentrationsleistung, die ich bewundere. Da entfällt schon mal ein erster Sicherheitsboden.
Das hinkriegen zu wollen mit den Mitteln der Improvisation, und keine eingeübte Ablaufroutine zu reproduzieren, bedeutet, auf einen zweiten Sicherheitsboden zu verzichten. Jeder Abend kann glücken oder eben auch zerfasern, versanden, entgleiten – und nur einer ist dafür verantwortlich.
Musik, die sich auf Lautstärke stützt, ist weniger irritierbar und kann sich gegen die Ignoranz des Publikums in eine schützende Lärmblase hüllen. Sicherheitsboden Nummer drei. Die Musik flutet dann mit ihrer schieren physischen Präsenz alle Störfaktoren weg.
Ich will damit um Himmels Willen nichts gegen sacklaute Bands gesagt haben, die lauter geile Drei-Minuten-Songs rausbrettern! Ich versuche bloß zu erklären, warum die in der Regel nicht abbrechen, wenn jemand hustet.
Demgegenüber scheint mir das, was KJ macht, tatsächlich in dreifacher Hinsicht fragil zu sein. Wer sich auf so ein Wagnis einlässt, hat im Gegenzug auch die ganze Konzentration des Publikums verdient. Wenn sich dann mal irgendwo einer kurz räuspert, ist das vielleicht kein Grund zum Abbrechen. Aber dass die Duldsamkeitsschwelle bei solchen Künstlern bisweilen sehr niedrig liegt, finde ich verständlich.
Wenn bei einem Punkkonzert der Pogo tobt und die Flaschen fliegen, ist das okay (wenn es nicht passiert, fehlt mir was). Wenn bei irgendwelchen Coverrock-Knechten, die im Festzelt die Top 40 runterkloppen, im Publikum lautstarke Paarungsvorbereitungsgespräche laufen und die Meute an der Cola-Whisky-Bar achtlos rumprolt, dann ist das nur angemessen (dafür sind solche Veranstaltungen ja da). Aber Musiker wie KJ verlangen von sich selber mehr als eine bloße Beschallungsdienstleistung, sie lösen diesen Anspruch oft auch ein – und deshalb sollte der Zuhörer sich an leisen Stellen auch bitte den Rotz lautlos von der Lippe lecken, anstatt ihn lautstark hochzuziehen oder ins Taschentuch zu trompeten.
Peinlich ist es allerdings, wenn sich irgendwelche Anfänger aufführen wie Diven, weil das Publikum nicht wie gewünscht zuhört/tanzt/klatscht/an den richtigen Stellen lacht oder was auch immer.
--