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Immerhin denkt sich einer was dabei
Und unter all dem Konzeptgefuchtel kann man sogar richtige Musik entdecken: Radiohead in der Wuhlheide
von Markus Schneider
Wegen all des Marketingtheaters kam man letzten Herbst kaum dazu, das eigentlich hübsche neue Radiohead-Album „In Rainbows“ richtig zu hören – es wurde zunächst über ihre Homepage veröffentlicht, mit einem Preis nach Gutdünken des geneigten Fans, weshalb vor allem diskutiert wurde, ob dies ein zukunftsweisendes oder nur überhebliches Modell sei.
Man hat den Eindruck, die Band demonstriere ihren Willen zu Innovation und künstlerischer Größe immer ein bisschen zu sehr. Ihr Rock verdankt schließlich nicht nur Bands wie den Talking Heads, den aufgekratzten Pixies und den angstvollen Nirvana einiges, sondern auch dem messianischen Geheul und Geschwätz von U2. Auch im Vorfeld zum Konzert in der Wuhlheide gab es vor der Musik noch ein wenig konzeptuelles Gedöns. Radiohead forderten die Fans zur klimafreundlichen Anfahrt mit den Öffentlichen auf, was natürlich löblich ist und für alle Berliner Freiluftbühnen praktisch. Weshalb man eigentlich nicht gleich eine Presseerklärung rausschicken müsste. Aus einer weiteren erfuhr man, dass die Band das arme „In Rainbows“, das offenbar nie zur Ruhe kommen darf, soeben als Free-on-Demand-Album dem Internetradio Last.fm zu Verfügung gestellt hat, wo es – werbefinanziert – schon am ersten Tag 22 000 Mal angehört wurde. Wie der Netzdownload, war auch dies eine derbe Grußbotschaft an die Musikindustrie, die in Gestalt des Ex-Radiohead-Labels EMI allerdings gerade ein ganz bodenständiges „Best Of“ veröffentlicht hat.
Lässt man jedoch das stets etwas überdramatische Gefuchtel mit nur modischen oder auch modernen Ideen und Konzepten mal beiseite, müsste man schon besonders gemein sein, den Auftritt in der Wuhlheide nicht mindestens höchst beeindruckend zu finden.
Robustere Hörer können sich an Thom Yorkes allzu winselbereiten Gesang stören: er changiert zwischen den Polen „Elend aus Prinzip“ und „schöne Traurigkeit“, wie das Fachblatt The Wire zutreffend analysierte. Die Stimme zu verstellen oder in Extreme zu treiben, erklärte wiederum Yorke im Interview, ermögliche ihm Distanz zu seinen Texten. Natürlich darf man das Greinen in gedehnten Songs wie „Nude“, dem zweiten Teil von „Paranoid Android“ oder der populistischen Kinderangst von „No Surprises“ unerträglich und Pink-Floyd-haft finden. Aber immerhin denkt sich einer was dabei.
Wie es sich überhaupt um eine sehr durchdachte und intelligente Musik handelt, gerade auch, weil sie sich oft komplexer und schlauer gibt, als sie eigentlich ist. Dann kann man mit kleinen rhythmischen Verschränkungen sehr überschaubar konstruierte Songs erstaunlich vieldimensional und schillernd inszenieren. Wie gleich zu Beginn mit dem eigentlich elektronisch knackigen und dynamisch funkigen „15 Step“, das sehr clever durch seine schlürfende, jazzige Gitarrenfigur eine luftige, entspannte Note bekommt. Oder wie im gleichzeitig distanzierten und sanft melancholischen Neo-Krautrock „Weird Fishes“, an dessen Transparenz sich der ausgezeichnete Live-Sound ebenso beweisen kann wie am prächtig texturierten „Body-snatchers“, das krachig den Hauptteil des Konzerts beendet.
Zu einem ordentlichen Progrock gehört neben gründlichen Stimmungs-, Richtungs- und Rhythmuswechseln eine nicht minder hochkomplexe Bühnenshow. Radiohead haben dazu einen Wald aus Stäben, an der Seite bodentief, über der Band von der Decke hängend, an dem sich wilde Lichteffekte brechen, während auf niederen, länglichen Screens im Hintergrund die Band durch verschiedene Kameras, je monochrom eingefärbt, zu sehen ist. Wie das Licht zu tropfen oder zu spritzen scheint, bizarre, pseudo-virtuelle, holographische Räume er schafft – das wirkt nicht weniger eindrücklich als die Musik. Es belichtet zudem noch, sagen wir, semi-magisch den ausverkauften Wuhlheidenkessel, in den sich der Himmel mehrmals kräftig entleert.
Für das Wetter entschuldigt sich Yorke ebenso wie später für einen charmant verpatzten Pianoeinstieg in „Cymbal Rush“. Für den 11. September 2001 übernimmt er zwar nicht die Verantwortung, aber er erinnert daran, weil es das Datum des letzten Wuhlheiden-Gigs seiner Band war, die deshalb das verängstigt-weltschmerzende „My Iron Lung“ spielt.
Zwei Stunden lang dauert das Konzert, und trotz des lausigen Wetters geht keiner. Stattdessen bekommt man am Ende noch eine Kostprobe des unbedingten Kunst- und Inszenierungswillens, als die Lichtreflexe toll britzelnd den Eindruck zerkratzten Zelluloids liefern, und das Konzert mit „Street Spirit (Fade Out)“ – genau: – abgeblendet wird. Neben der Bühne werden ein paar Feuerwerksraketen gezündet. Zu bescheiden eigentlich, um dazuzugehören. Aber als Zeichen dafür, dass hier stets ein klein wenig zu viel angerissen wird, passen sie gut.
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