Re: Die Intention von Jazz in der elektronischen Musik

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friedrich

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Spät antworte ich, aber ich antworte.

Ich wollte noch was zu BURNINGN’N TREE von Squarepusher alias Tom Jenkinson schreiben.

MODUS OPERANDI und BURNINGN’N TREE haben einige Gemeinsamkeiten: Beide kamen 1997 heraus, beide bestehen aus bereits auf Singles etc. veröffentlichten Material, beide dürften wir im Genre Drum ’n‘ Bass einsortieren, beide sind aber auch gleichzeitig untypisch für das Genre. Auch BNT ist keine über 70:00 durchgehend gute Platte, will sagen, es gibt durchaus ein paar Hänger, vermutlich B-Seiten oder auch ein paar vorher – möglicherweise aus gutem Grunde – unveröffentlichte Stücke. Das finde ich aber bei so einer Sammlung von sonst nirgendwo mehr erhältlicher Musik völlig okay. Das ist wie eine Jazz-Reissue mit allerlei Alternate Takes usw. Mit Hilfe der Programmierfunktion des CD-Spielers lässt sich daraus je nach eigenem Geschmack eine wirklich brillante Platte machen.

Ich habe nicht die geringste Ahnung welche Bedeutung der Titel hat. Die Titel der einzelnen Stücke auf der CD sind auf dem Cover nicht vermerkt, im Internet findet man sie hingegen. Ich weiß nicht, ob ich die Musik so gut beschreiben kann, wie Du MODUS OPERANDI beschrieben hast, möchte es aber doch exemplarisch anhand von 2 Stücken versuchen. Man verzeihe mir Ungenauigkeiten.

CENTRAL LINE ist das erste Stück auf BNT. Als Intro hören wir ein Bass-Riff aus ein paar auf dem Fender Rhodes (oder – was wahrscheinlicher ist – einer digitalen Imitation) gespielten Akkorden, das wiederholt durch einen harten Schlag auf Bassdrum und Hi Hat (oder so) akzentuiert wird, alle zwei Takte, wenn ich das richtig höre. Dann geht es in Media Res: Ein rasender, programmierter D’n’B-Beat fährt ab, ein bundloser E-Bass hakt sich ein, das Fender Rhodes Riff wird ständig wiederholt und variiiert, und ab geht die Post. Ein mit der rechten Hand gespieltes Fender-Riff löst das Bass-Riff ab und entwickelt sich zu einem jazzigen Solo. Die einzelne Stimmen setzen mal ein und aus, werden variiert, mal treten die Drums eine Schritt zurück, ein Bass-Solo tritt in den Vordergrund. Am Ende findet sich wieder alles zusammen und dann ist schlagartig Schluss. Ein rasanter Einstieg, der keinen Zweifel darüber aufkommen lässt, was uns auf BNT noch erwartet.

Das zehnte Stück EVISCERATE VERSION ist zunächst mal ein rasend schnelles, gelooptes Drumbreak, ich vermute, dass Tom Jenkinson das selbst gespielt und nicht programmiert hat und es dann durch den Sampler gejagt hat. Es klingt leicht unregelmäßig, mit kleinen Akzentverschiebungen. Der besondere Reiz liegt aber darin, wie Jenkinson das loopt: Es hört sich so an, als lasse er das Break einfach laufen und drückt immer wieder spontan auf die Repeat-Taste, so das es springt, aber eben nicht genau regelmäßig, sondern mal etwas früher, mal etwas später. Dadurch gibt es kleine rhythmische Verschiebungen, kleine Sprünge, winzige Pausen, die das nervös und dynamisch klingen lassen. Das Ding läuft nicht geradeaus, sondern schlägt Haken. Der Hersteller des Samplers würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, denn so ist das in der Betriebsanleitung bestimmt nicht vorgesehen, aber Jenkinson erzielt genau damit einen tollen Effekt. Das geht eine knappe Minute so, dann bricht es völlig unvermittelt ab. Stattdessen hören wir einen eigenartigen, weich modellierten, langsam pulsierenden Synthie-Klang, irgendwo zwischen Sun Ra, Silver Surfer und Raumschiff Orion. Der Komplementärkontrast zu dem Drumloop. Nach einer Weile werden die Drums wieder eingeblendet, ein paar Pekussionseffekte kommen hinzu, ein Basssolo, die Drums setzen wieder aus, bis schließlich Drums und Raumschiff Orion parallel laufen. Der Kontrast hat einen sehr schönen und hypnotischen Effekt. Einerseits die hypernervösen Drums, andererseits der weich gleitende Synthie-Klang. Man kann garnicht sagen, ob das Stück schnell ist oder langsam, hektisch oder ruhig. Am Ende ist man jedenfalls völlig benebelt.

Diese beiden Stücke könnte man exemplarisch für BNT stehen lassen. Alles sehr dicht gestrickt, sehr eng verzahnt, jeder Ton hängt straff eingespannt zwischen den anderen, aufgelockert durch die jazzigen Soli und gezielt eingesetzten Brüche und Pausen, die aber ganz wesentlich sind: Immer eng auf das musikalische Geschehen bezogen, kontrastierend und daraus Spannung aufbauend. Einerseits die durchprogrammierten Elemente, andererseits als Kontrast dazu die improvisierten Soli. Sehr klar strukturiert, nicht nur vertikal (also im Verhältnis der verschiedenen Stimmen) sondern auch horizontal (in der Zeit). Es gibt Schichten und aufeinanderfolgende Teile, die klar unterscheidbar sind, das klingt geplant, aber nie zwanghaft, sondern mit einem feinen Gespür für Spannung und Dynamik.

Eine Art Power-Trio aus Fender, Bass und Drums, allerdings in einer Person, daher absolut perfekt auf einander eingespielt. Die beste Platte, die Herbie Hancock, Jaco Pastorius und Billy Cobham nie gemacht haben

Ich kenne noch ein paar andere Platten von Squarepusher. Die poppige HARD NORMAL DADDY, die sehr jazzige aber auch sehr faserige MUISIC IS ROTTED ONE NOTE, und HELLO EVERYTHING. Die sind alle gut, loten das auf BNT vorgestellte Spektrum aus und erweitern dies, mal jazziger mal poppiger, im Fall von HELLO auch viel komplexer, vom Klang her reicher aber auch weniger klar. BNT ist sehr redutiert und transparent.

Viel Text, ich weiß, und alles nur über zwei Stücke elektronischer Popmusik. Aber so höre ich das und so fasziniert mich das.

Friedrich

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„Für mich ist Rock’n’Roll nach wie vor das beste Mittel, um Freundschaften zu schließen.“ (Greil Marcus)