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So, dann wollen wir mal:
Der Genrebegriff „Electronic Body Music“ wurde 1984 von der belgischen Band Front 242 als Beschreibung für die Musik die sie aufnahm, ins Leben gerufen. Front 242 verstanden ihre Musik als körperbetonte, harte elektronische Tanzmusik. Sucht man nach den Wurzeln und Vorbildern von Front 242, so wird man in der Industrialculture, dem Postpunk und New Wave, als auch bei den alten deutschen Elektronikern gleichermassen fündig (also von Kraftwerk über Throbbing Gristle, Cabaret Voltaire, The Normal, Pop Group hin zu Joy Division und D.A.F.). Daß bei der „Erfindung“ von E.B.M. selbstverständlich auch Disco mit einmontiert wurde, fiel bei vielen (späteren) Protagonisten und sonstigen an dem Genre Beteiligten, Mitstreitern, Epigonen und Fans fast vollkommen unter den Tisch. E.B.M. wurde von vielen damaligen Zeitgenossen als krasser Gegenentwurf zur schwarzamerikanischen Dance-Culture verstanden („weisse“ Tanzmusik für den „modernen“ zukunftszugewandten Europäer der Achtziger… – sic!). Der manchmal aufs Trapez gebrachte Begriff „Electro-Funk“, mit dem die in den Achtzigern veröffentlichten – der E.B.M. nicht unähnlichen – Platten von z.B. Cabaret Voltaire bedacht wurden, wurde fast vollkommen ignoriert. Dabei bauen nicht wenige Tracks von F242, Nitzer Ebb, Portion Control und vielen anderen „typischen“ E.B.M.-Formationen auf einem tatsächlichen Electro-Funk-Gerüst auf.
Natürlich gab es bereits auch vor 1984 Bands und Künstler, die harte, minimalistische elektronische Tanzmusik produzierten. Natürlich fällt einem dazu sofort D.A.F. ein, die bereits ein paar Jährchen früher ihren Sound als „Körpermusik“ bezeichneten. Wenn man z.B. D.A.F.’s „Alle gegen alle“ mit der ersten Nitzer Ebb-EP vergleicht, so verortet man sofort Künstler, die das gleiche Feld beackern.
Und auch das optische Erscheinungsbild vieler Protagonisten und gerade Fans gemahnte an D.A.F. und diverse bereits etablierte Industrial-Acts: zackiger Kurzhaarschnitt, stromlinienförmiges (zumeist schwarzes) Outfit, das an Militär, totalitäre Systeme oder Ausdauersport denken liess – aber auch an die Schwulenszene. Dabei setzte sich die E.B.M.-„Szene“ vorwiegend aus weißen, meist heterosexuellen männlichen Mittelstand-Teens/Twens zusammen, die trotz eines martialischen Aussehens und Kokettierens mit totalitärer Symbolik sich unpolitisch und friedfertig gab. Ausserdem gehörte es dazu, viel Geld für Platten, Mode, Discobesuche und Lifestyle-Artikel auszugeben. Wem jetzt sofort die Gothicszene vor dem geistigen Auge erscheint, hat zwar nicht ganz Unrecht – aber Vorsicht: der typische E.B.M.-ler der Achtziger grenzte sich glasklar von der (damals) eher feminin-verspielt wirkenden Gothicszene ab. Was nicht zuletzt auch an den typischen (seltsam kargen, abgehackten, kurz und knappen) E.B.M.-Lyrics lag. Zwar war in diesen die Welt, die gesamte Existenz und das Leben auch kein Ponyhof, aber sie blieben nüchtern und klar – oftmals parolenhaft – auf jedes Wort zuviel verzichtend. Und wurden somit klar dem hämmernden Sound (der ausserdem durch Mengen von Samples und Sprachfetzen angereichert wurde) angepasst. Wobei viele der führenden Bands nicht unintelligent waren und sich durchaus sozial- und gesellschaftskritisch gaben. So outeten sich z.B. Front 242, Chris & Cosey und gerade Skinny Puppy als Tierschützer. The Klinik z.B. gaben geradezu das Paradebeispiel von pessimistischen Zukunfts- und Technologieskeptikern ab – was gerade mit elektronischen Maschinensounds am besten funktioniert (man werte dies als eine Message an alle Akustikklampfen-Feld-und-Wiesen-Protestklimperer und deren Anhänger…). Also, nicht nur lauschig düstere Endzeit-Fun in höllisch lauten, anonym und kalt wirkenden Discos und Konzertsälen war an der Tagesordnung – und nicht jeder E.B.M.-Fan ein tumber Golf-GTI-Bauer mit heckscheibenfüllendem „2 fast 4 you 2“-Aufkleber. Eine Vielzahl der E.B.M.-Szenegänger interessierten sich stark für die Inhalte und Philosophien ihrer „Lieblinge“ und identifizierten sich mit diesen (und nicht nur optisch).
Alles schön und gut werden sich jetzt vereinzelt diverse Leser meiner Zeilen denken – aber wie steht das Ganze in Relation zu anderen Musikstilen der elektronischen Musik, bzw. zur Gegenwart.
Natürlich zehrten die (ursprünglichen) E.B.M.-Formationen stark von der Industrialculture und die Überschneidungen waren sehr zahlreich. Nicht wenige Künstler aus beiden Lagern gingen auch den identischen Weg bei einer zu einem späteren Zeitpunkt einsetzenden musikalischen Neuorientierung in Richtung Techno/Trance/House oder sonstigen Stilen. Daher möchte ich nur ein paar grobe (rein musikalische) Unterscheidungsmerkmale (bzw. „Faustregeln“) anführen: Während die Industrialsounds oftmals zwar durch Distortions extrem maschinenhaft verzerrt wahrgenommen werden, wohnt ihnen allerdings seltsamerweise eine Vielschichtigkeit inne, die analytisch betrachtet komplexer ausfällt als die doch verhältnismässig klareren E.B.M.-Rhythmen. Weiterhin ist die (Pop-)Strukturen auflösende experimentelle Noisezentriertheit ein typisches Merkmal des Industrial, das der dem Tanzboden verbandelten E.B.M. nur wenig förderlich ist – und nur in diversen Fällen als ein begleitendes Element eingesetzt wurde/wird. Industrialkünstler verbinden oft verschiedenste Musikstile mit ihrem Sound, so entpuppen sich z.B. manche Tracks als eine Art bösartig verzerrter Jazz oder mutierte E-Musik oder Ambient. Dies ist aufgrund der erforderlichen Eingängigkeit der E.B.M. dort keinesfalls möglich. Auf diverse theoretische Hintergründe und Bandphilosophien möchte ich nun an dieser Stelle nicht eingehen, alleine die der Formation S.P.K. würde an dieser Stelle diesen Thread sprengen…
Zur zweiten E.B.M.-„Welle“ der Neunziger möchte ich nicht allzu viele Worte verlieren, da ich bereits eine fehlende Substanz, bzw. den Anachronismus dieser hier beschrieb. Aber diese zweite „Welle“ wurde fast vollständig von der Gothic-Szene der heutigen Prägung eingemeindet – und wäre ohne diese nicht mehr eigenständig denkbar.
Zu guter letzt möchte ich nochmals explizit darauf hinweisen, daß mir persönlich die im Laufe der Jahre aufgebaute Aversion der betreffenden verschiedenen Szenegänger- und Hörerschaften gegeneinander schon immer suspekt war. Zwar mochte und möchte ich die unterschiedlichen Genres und Subgenres in ihrer Ausprägung nicht missen, d.h. eine Unterscheidung sollte vorgenommen werden und von Fall zu Fall spürbar existent sein – aber ein Stilmix (gerade in Clubs – wenn auch nur in wenigen…) empfand ich schon immer als erfrischend. Und wenn ich mir meine betreffenden C90-Tapes aus jenen Tagen ansehe, so fristeten auf diesen z.B. Acid House neben Throbbing Gristle, Front 242, Depeche Mode, Ministry, Kraftwerk und Afrika Bambaataa oder 808 State und Coldcut eine friedliche Koexistenz.
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I mean, being a robot's great - but we don't have emotions and sometimes that makes me very sad