Re: Bill Callahan, 18.05.08, Postbahnhof Berlin

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tugboat-captain

Registriert seit: 20.03.2008

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nail75
Die von Dir beanstandeten Sätze dienten übrigens der Verdeutlichung der Tatsache, dass es sich kein Werk zum Mitsingen, Mitpfeifen oder Tanzen handelt. Wenn das Dir „dreist“ oder „anmaßend“ vorkommt, dann kann ich das nicht ändern.

Anmaßend und dreist bleibt es auch weiterhin. Ändern kann ich auch nur, was Du hier so neunmalklug vor Dir herträgst und vor allem schlichtweg falsch ist. So falsch, dass ich mich auch an dieser Stelle nicht zufrieden geben kann, denn Du setzt Ali Roberts in ein so schlechtes und, ich sage es gerne noch mal, falsches Licht. Deine neue Eingrenzung von „Mitsingen, Mitpfeifen oder Tanzen“, die Deinen obigen Bringer („Wer an Musik vor allem schätzt, dass sie den Hörer einbezieht und zum Mitfiebern anregt, der liegt bei ihm auf jeden Fall falsch“ – man lasse sich das „auf jeden Fall“ auf der Zunge zergehen) nicht besser macht, könntest Du auch der neuen Portishead vorwerfen (und so vielen anderen Alben). Und ich würde zu gerne sehen, wie sich der geneigte „Third“-Fan echauffiert, weil Du ihm mit Deinem Allgemeinplatz, den Du da aufgemacht hast, das Mitfiebern absprichst. Dass Mitfiebern und „den Hörer einbeziehen“ für Dich Pfeifen, Singen, Tanzen bedeutet, kann ich nicht wirklich ernst nehmen.

Aber ich bin auch nicht hier, um Vergleiche anzustellen, die dann doch zu nichts führen. Ich will von meinen Erfahrungen erzählen. Ich kann nicht behaupten, zu „No Earthly Man“ auf und ab getanzt zu haben, aber mitgesungen habe ich. Und wie! Und ich denke auch, dass ich da nicht der Einzige bin. Gerade die melodiöse Herangehensweise von Stimme und Ton lädt doch vollends zum Mitsingen ein, basiert sie nicht letztlich auf alten Folksongs, vertonten Parabeln, Märchen, Sagen, Geschichten, die wohl möglich in schottischen Kneipen vorgetragen wurden oder in diversen anderen, regionalen, familialen Sangeskreisen, als es eben noch keine Tonträger gab. Wenn ich alleine an „Sweet William“, „Admiral Cole“ oder an „On The Banks Of Red Roses“ denke, fallen mir jede Menge Passagen ein, bei denen ich mitgesungen habe. Selbst beim minimalistischen „Lord Ronald“ gelingt es mir, weil Roberts so eine hervorragende Sangesmelodie besitzt, die bei mir die schon von Napoleon beschriebene breite Palette an Emotionen hervorruft und die ihn auch von wahren Spartanikern wie einem frühen Oldham oder Molina unterscheidet. Weiterhin denke ich an „A Lyke Wake Dirge“, der mit seinem wundervollen Call-and-response-Spielchen mit den unheilsschwanger tönenden, hintergründigem Chor ebenfalls zum Mitsingen animieren kann. Bei mir klappt es in jedem Fall.

Wenn ich schon bei Call and Response bin (und genau da wollte ich eigentlich hin um meine Ausführungen vom Mitsingen zu festigen), so höre man bitte das Vorgängeralbum „Farewell Sorrow“, das für mich (und deswegen empfinde ich Deine falschen Eingrenzungen auch als so ärgerlich) fast ein Inbegriff für ein Album ist, bei dem ich jede Zeile auswendig kenne und mitträllere. Das ist sicherlich auch keine allein empfundene, innere Überzeugung, sondern steckt objektiv in fast jedem Song im Detail: „Join Our Lusty Chorus“, „The Whole House Is Singing“ – da sind die Titel schon selbst erklärend…und sie klingen auch so. Wer da nicht mitsingt, den erkläre ich für verloren. Man bedenke dabei, dass „Farewell Sorrow“ sich nur marginal von seinem Nachfolger unterscheidet. Und es gibt noch viel mehr dieser Songs. Wenn uns Roberts in „Come, My Darling Polly“ wie ein Mantra immer wieder „Your body was my instrument of lust“ vorhält, was soll ich da anderes tun, als selbst die Stimmbänder anzuspannen?
Noch zwei Anekdoten, die ich trotz meiner Verärgerung einfach bringen will, weil sie hoffentlich mehr Lust machen auf diesen großartigen Künstler: Den Refrain von „I Am A Young Man“ habe ich mit meiner neun Jahre jüngeren Schwester anno 2003 auf und ab gesungen, bis sie es, nach angfänglicher Genervtheit, selbst als andauernden Ohrwurm nicht mehr loswerden konnte. „Slowly Growing Old“, der fulminante Schlußtrack, diente Freunden und mir als Soundtrack zu Grillabenden, als wir leicht angetrunken den Roberts-unterstützenden Männerchor imitierten, um uns ein wenig geselliger Melancholie hinzugeben. Wir nahmen den letztgenannten Song sogar mit zum 2004er Haldern-Festival, damit wir das Ritual auch dort vollziehen konnten.

Es geht mir nicht darum, mit Gegenargumenten nur so um mich zu schießen und Dich zum Trotz in die Pfanne zu hauen, doch stört es mich, wenn Du solche Eingrenzungen schaffst, die schlichtweg nicht stimmen. Sie mögen für Dich stimmig sein, aber dann halte sie bitte auch so, dass man sie als persönliches Statement lesen kann und nicht als allgemeingültige Roberts-Analyse. Da braucht es auch kein „Meiner Meinung nach…“. So liest sich ein Satz wie „Wer an Musik vor allem schätzt, dass sie den Hörer einbezieht und zum Mitfiebern anregt, der liegt bei ihm auf jeden Fall falsch“ eben als ziemlich überheblicher Allgemeinplatz. Ich würde zu so etwas nicht greifen, da jeder seine Herangehensweise hat und Worte wie „Mitfiebern“ anders begreift. So wie ich zu Roberts eben mitsingen kann. Deswegen kam auch von meiner Seite jenes dreist und anmaßend.

[QUOTe]Übrigens ist es natürlich richtig, dass die akustische Gitarre und ähnliche Saiteninstrumente keineswegs die einzigen Instrumente auf dem Album darstellen. Allerdings sind sie eben alle doch weitgehend im Hintergrund, im Vordergrund ist der häufig stoische stimmliche Vortrag.
Stoisch? So weit entfernt von der Wahrheit.

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