Re: Deutschsprachige Musik

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nail75

Registriert seit: 16.10.2006

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dougsahmdito.
Am Anfang ging es nämlich um deutschsprachige Musik und dann wird es eingeengt auf deutschsprachige Pop- und Rockmusik, weil einem originär deutschsprachige Musik nicht interessiert (was ja auch legitim sein darf). Anders gefragt: kramer, finde doch mal auf der ganzen Welt Pop- und Rockmusik außerhalb USA und GB, die frei von angloamerikanischen Einflüssen ist.

Ja, das stimmt. Wohin man blickt, die südamerikanische, die afrikanische, die arabische, die türkische, die indische, die chinesische, die südostasiatische oder die japanische Kultur, alle sind durchdrungen von der angloamerikanischen Popmusik. Meistens sind traditionelle Formen bzw. kulturelle Konzepte mit der angloamerikanischen Tradition verschmolzen.

LoplopAufgrund ihrer besseren Verständlichkeit…?

Ein paar Gedanken dazu: […]
1. Englisch ist meine Co-Muttersprache; ich muss wirklich staunen, wieviel Hemmungen man hier scheinbar hat, die eigene Sprache zu hören, vor allem wenn sie so brilliant wie bei Element of Crime und Blumfeld angewandt wird. Wieso diese Verkrampfung?
2. Europäische Einflüsse (Brecht, Rimbaud->Dylan, Brel->Walker) auf angloamerikanische Musik gab es häufig und wurden „übersetzt“, also in der eigenen Sprache verarbeitet. Diese Trennungslinien angloamerikanisch/europäisch werden ein wenig zu deutlich gezogen.

2. Ja, so ist es – der grenzüberschreitende Charakter von Musik wird zu wenig beachtet. Den gibt es übrigens nicht nur in der Popmusik, für den Jazz habe ich darauf schon häufig hingewiesen, dass Jazz von Beginn an (oder jedenfalls seit den 1920er Jahren) durch den Austausch zwischen Europa und Amerika geprägt war. Später trat noch Japan hinzu.

1. Warum so verkrampft? Erinnert Dich die Frage nicht sehr an die Diskussion über Kultur- bzw. Sportpatriotismus? Ich musste sofort daran denken und versuche mich an einer Antwort. Sorry für die Länge, mir ist klar, dass das kaum jemand lesen wird, aber vielleicht ja Du. ;-) Es gibt zwei Hemmnisse, die der deutschen Popmusik entgegenstehen:

A. Die Unterscheidung zwischen U und E-Musik. Es gibt bei vielen Deutschen, vor allem älteren und gebildeten Deutschen, die Auffassung, Popmusik sei unheilbar minderwertig. Im unten verlinkten Beitrag findet sich ein schönes Beispiel dafür: Die klassische Musik benutze, so sagt Joachim Kaiser, eine über Jahrhundert entwickelte Kunstsprache, die Popmusik besitze so etwas nicht. Natürlich könne ein „Popschlager“ nett, unterhaltsam sein oder Spaß machen, aber er könne letztlich das Niveau von klassischer Musik nicht erreichen. Eigentlich will er nicht davon sprechen, dass Popmusik schlechtere Musik ist, aber er macht es dann eben doch. Das eine ist hohe Kunst – das andere ist banal. (Jazz kommt in diesem Zusammenhang nicht vor, da würde er auch scheitern)
http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/30705

Eine kurze Story aus meinem persönlichen Bekanntenkreis: Ein guter Freund beschloss mit 18, seine Popmusiksammlung (die nicht groß war) aufzulösen und nur noch Klassik zu hören. Seine Mutter äußerte Zufriedenheit und als ich mich entsetzt zeigte, fragte sie: „Hörst Du das etwa auch?“ Dieser Freund war nicht fremdgesteuert, denn er mochte Klassik aufgrund von Klavierunterricht schon immer, er hatte nur diese unselige Idee der Minderwertigkeit von Popmusik. Inzwischen hat die Geschichte einen guten Ausgang genommen, denn besagter Freund hört inzwischen Pop und Jazz genau wie Klassik.

Diese Auffassung basiert auf einer Fehlinterpretation von Popmusik, denn die besitzt natürlich genauso eine über Jahrhunderte entwickelte Kunstsprache wie die klassische Musik. Da sie aber von „einfachen Leuten“ ausgeht und weniger gut dokumentiert und untersucht ist als die klassische Musik, liegt sie weniger offen zu Tage bzw. findet sich nicht systematisch geordnet in gut belüfteten Archiven und akademischen Veröffentlichungen. Deshalb kommen so kluge Klassikkenner wie Prof. Kaiser auf die Idee, die Popmusik besitze keine Kunstsprache bzw. keinen über Jahrhunderte gewachsenen kulturellen Kontext, obwohl er selbst „Go Down Moses“ als Beispiel für „ernsthafte Popmusik“ nennt!

Ich hatte ja schon mehrfach geschrieben, dass Popmusik eine demokratische Musikform ist, weil sie prinzipiell jedem offensteht. Klassische Musik war schon immer ein Elitenphänomen und wird es immer bleiben. Ihr Ausgangspunkt ist das höfische Leben und mit dem Verschwinden des höfischen Lebens im 20. Jahrhundert, kommt auch die Neuproduktion von klassischer Musik zum Erliegen (jedenfalls weitgehend). Die neue Kultur ist bürgerlich und orientiert sich nicht am Geschmack (jaja!) der Aristokratie, sondern am Geschmack des Volkes. Die Musiker hängen also nicht vom Wohlwollen von König Ludwig ab, sondern vom Verkaufserfolg. Natürlich hat sich aber auch ein gewaltiger Korpus an durch Jahrhunderte gefilterter klassischer Musik gebildet, die zahlreiche große Werke enthält und immer noch viele Menschen fasziniert.

Deutschland ist ein wenig eine Ausnahme, weil die föderale Struktur des Landes das Überleben der ehemals höfischen Orchester erlaubt und weil gleichzeitig eine Ideologie (E/U-Musik) gerade den gebildeten Schichten suggeriert hat, ernsthafte Menschen beschäftigten sich nur mit klassischer Musik. Diese Geisteshaltung stirbt langsam aus, aber sie hat die Entwicklung von Popmusik in Deutschland behindert.

B. Es gibt noch ein zusätzliches Problem und das ist das schwierige Verhältnis der Deutschen zur Nation. Es ist ja auch kein Wunder nach zwei Weltkriegen. Es verstellt aber gewissermaßen den Zugang zu traditionellen Formen deutscher Volksmusik. Allein der Gedanke daran, lässt viele ernsthafte Musikfans erschaudern. In England oder Amerika besteht das Problem überhaupt nicht, dort bedienen sich die Musiker den Music-Hall-Traditionen, greifen auf uralte Volkslieder oder Kirchenmusik zurück – und haben damit komerziellen bzw. künstlerischen Erfolg! In Deutschland macht das kaum jemand und wenn dann sind es Randphänomene ohne kommerzielle oder nationale Bedeutung. Ohne das Aufgreifen eigener Traditionen ist aber eine lebendige Popmusik kaum möglich. Inzwischen hat sich die deutsche Popmusik ansatzweise eigene Traditionen geschaffen, aber ich hoffe, dass es irgendwann möglich sein wird, aus deutscher Musik so zu schöpfen, wie es Amerikaner und Engländer in ihrem Kulturkreis tun.

Übrigens: Wenn man Heavy Metal oder Electronica macht, dann besteht dieses Problem überhaupt nicht, daher sind deutsche Musiker in diesen Bereichen auch sehr aktiv. Gleiches gilt für Schlager und volkstümliche Musik. Diese Musik drückt sich vor der ganzen Problematik, in dem sie einfach ständig dümmlich grinst und gestelzt und künstlich redet. Sie ist im Grunde eine Perversion der grenzenlosen Ausdrucksmöglichkeiten der Popmusik, da sie allein auf gespielte Fröhlichkeit und Harmonie setzt. Deshalb glaubt Joachim Kaiser vermutlich auch, dass Popmusik immer harmlos, banal und nett und deshalb minderwertig sei.

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Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum.