Re: Deutschsprachige Musik

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sonic-juice
Moderator

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nail75Ansonsten würde mich interessieren,worin ihr die Gründe für das schwächere Niveau der originär deutschsprachigen Popmusik seht.

Tja.

Zunächst mal ist mir jenseits anglophoner Popmusik aus den USA und dem UK ohnehin kein Land bekannt, das da annähernd mithalten kann. Johnny Halliday z.B., der vermeintlich große Rocker der Franzosen, gilt ja auf der Insel als eine absolute Lachnummer. Es wäre wohl sogar verwunderlich, wenn ein Land, das die entsprechende Rock/Pop-Stilistik nur adaptiert hat, da konkurrenzfähig wäre. Da aber die Attraktivität und damit verbundene Deutungshoheit über die Popularkultur ganz bei den Engländern und US-Amerikanern liegt, gibt es natürlich in fast jedem Land dieser Erde mehr oder weniger geglückte Versuche, da mitzuspielen.
Insoweit spielt die besondere Problematik der deutschen Geschichte noch keine große Rolle, schließlich sind die Schweizer, Belgier, Niederländer und Portugiesen auch nicht besser, wenn sie rocken oder rappen. (Ok, die Finnen kenne ich nicht hinreichend). Wenn sich die ganze Welt dem Tango, und nicht den Beatles unterworfen hätte, sähen wahrscheinlich die Engländer ganz schön alt aus, da mitzuhalten. So ist es aber nicht gekommen.

In Bezug auf ein etwaiges spezifisch deutsches Dilemma bzw. Defizit stellt sich mir die Frage eher, warum wir keine eigene originäre Popularkultur in der Breite haben, auf die sich alle einigen können. Das unterscheidet uns ja offenbar von vielen anderen Ländern. Hier gerate ich aber natürlich ins Spekulieren, weil ich keine wirklich fundierten Länder-Kenntnisse habe. Aber die Franzosen, die Italiener, die Spanier, Portugiesen, Argentinier und Brasilianer verfügen doch statt oder neben der typischen anglophonen Rockmusik auch über eine in der breiten Bevölkerung verankerte und durch die Generationen akzeptierte, identitätsstiftende Volksmusik, sei es nun Flamenco, Chanson, Fado, Tango, Samba oder Bossa Nova, die man nicht mögen muss, die aber in der Breite gewisse Geschmacksgrenzen nicht unterschreitet und oft von ungemeinem Charme ist. Die Qualität dieser Musik scheint mir nicht selten darin zu liegen, dass sie – vereinfacht gesprochen – authentische Gefühle vermittelt und ihr zugleich eine gewisse Eleganz anhaftet, die gerade in den von Traurigkeit und Melancholie geprägten Momenten eine große Kraft entfaltet (sozusagen den „Blues“ des Landes verkörpert).

In Deutschland gibt es aber – jenseits der Klassik – in der Breite diese Volkskultur nicht, auf die sich alle einigen können. Niemand singt uns allen auf originär deutsche Weise den „Blues“ vom Leibe. Als Massenkultur haben wir allenfalls seit Jahrzehnten den Schlager und die volkstümliche Musik, die Fototapeten ausrollt und in der Regel klobige Stumpfheit und falsche Idyllen transportiert, meist reiner Eskapismus. Mir ist jetzt auf Anhieb kein Land bewusst, dass in solch erschütterndem Maße auf vergleichbar ordinäre Klänge baut. Und als Gegenbewegung (jenseits der wirklich authentischen Volksmusik, die ja auch eher ein Nischenpublikum bedient) gibt es dann halt die deutsche Pop/Rockmusik, die ja nun im Schnitt auch nicht so richtig dolle ist.
Warum das so ist? Vielleicht hängt es wirklich damit zusammen, dass Deutschland in der Entwicklung der Populärmusik nach den Comedian Harmonists, Kurt Weill etc. nicht auf eine kontinuierliche Geschichte bauen konnte, dass viele Talente auswanderten und in der Rock’n’Roll-Gründungszeit der 50er hier die große biedere heile Welt der Verdrängung herrschte, niemand den Blues hören wollte, sondern lieber auf musikalische Fototapeten ohne jegliche Aussage schaute. Es wurde in den entscheidenden Jahren eben einfach kein richtiges Fundament gelegt, auf das man bauen konnte. Und nach wie vor ist – verständlicherweise – die Tendenz bei deutschen Popmusikern, sich auf eine deutsche Vergangenheit oder originäre Identität zu berufen und diese fortzuentwickeln, nicht sehr verbreitet. In den USA kann der Indierocker, der das System hasst, trotzdem eine Country-Platte aufnehmen. In Deutschland lebt man als Künstler hingegen – auch musikalisch – oft in einem ständigen Distanzierungsdenken von der eigenen Herkunft – wenn man sich nicht als unreflektiert oder deutschtümelnd oder jedenfalls als unglaublich uncool bezeichnen lassen will. Verständlicherweise.

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