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Die erste vernünftige und treffende Rezension zu dem großartigen Album !!
Bob Dylans „Rolling Thunder Revue“
Der letzte Hippie-Hurrikan
Von Max Dax
Bob Dylans „Rolling Thunder Revue“ durch den Nordosten der USA sollte eine Tournee sein, wie es sie zuvor noch nicht gab – eine Varieté-Show, die unangekündigt von Ort zu Ort zog. 27 Jahre später dokumentiert eine Doppel-CD erstmals offiziell das letzte, kraftvolle Aufbäumen der amerikanischen Alternativ-Kultur.
Dylan-CD „Live 1975“: Letztes Aufbäumen der Hippie- und Beatnik-Kultur
Bob Dylan war 1975 auf dem zweiten Zenit seiner Popularität, unberührbar, ein absoluter Superstar, als er beschloss, nach Jahren der Abgeschiedenheit zurück nach New York zu kehren, ins Künstlerviertel Greenwich Village, um dort nach neuen Ideen zu suchen. Eben jenen Ort, an dem er 13 Jahre zuvor in atemberaubender Geschwindigkeit die Wandlung durchgemacht hatte vom unbekannten, aber talentierten Interpreten alter Folk-Weisen zur stadienfüllenden Erlöserfigur einer gesamten Generation und wo er schließlich, in einem Akt der Zerstörung des Erreichten, zum Erfinder der literarisch wertvollen Rockmusik wurde.
1975, das war zwei Jahre, bevor Punkrock die Koordinaten der Musikwelt neu festlegen sollte und das Jahr, in dem Dylan im Sommer mit „Desire“ sein mit Abstand erfolgreichstes Album der siebziger Jahre in eben jenem Greenwich Village mit lokalen Musikern aufgenommen hatte. Die unter größter Geheimhaltung geplante „Rolling Thunder Revue“ war in diesem Sinne ein letztes Aufbäumen der Beatnik- und der Hippie-Kultur, ein letzter Kraftakt, dem allerdings durch den Impetus des Improvisierten und Publikumsnahen – die Revue machte Halt in kleinen Städten und noch kleineren Theatern – alles Bemühte und Angestrengte von vornherein genommen worden war.
Ein größenwahnsinniges Projekt
Dylan hatte um sich eine Busladung lebender Legenden geschart, unter ihnen Ikonen wie Joni Mitchell, den Byrds-Sänger Roger McGuinn, Joan Baez und Mick Ronson, den Kopf der damals gerade berühmten Glamrock-Kapelle Spiders From Mars – und noch Dutzende weiterer Musiker. Zur Entourage gehörten aber auch Schriftsteller wie Alan Ginsberg und der Bühnenautor Sam Shepard, und mit Howard Alk, David Myers und LA Johnson war sogar eine Troika von Filmleuten mit dabei, die von Dylan den Auftrag erhalten hatte, die „Rolling Thunder Revue“ auf Zelluloid für einen aufwändigen Kinofilm festzuhalten. Die Tournee war somit von Anfang an ein, so könnte man sagen, größenwahnsinniges Projekt. Dylans Botschaft war unschwer aus der ambitionierten Unternehmung herauszulesen: Ich kann die gesamte US-Gegenkultur um mich herum versammeln, aber ich, Dylan, bin ihr Epizentrum und überstrahle sie alle – und dank des Kinofilms auch bis in alle Ewigkeit.
AP
Superstar Dylan (1975): Radikal umgearbeitet, gepusht und amphetaminisiert
Liest man die bloßen, aneinandergereihten Fakten, erscheint die „Rolling Thunder Revue“ als, weil offenbar von Egomanie und Geltungsdrang angetrieben, vorhersehbares, wenn nicht unvermeidbares künstlerisches Fiasko. Tatsächlich aber, und das ist keine Neuigkeit für eisenharte Dylan-Fans, die sich auf dem Schwarzmarkt stets mit dumpf bis halbwegs gut klingenden Bootlegs der Konzerte haben eindecken können, tatsächlich war die „Rolling Thunder Revue“ ein einziger musikalischer Triumphzug Dylans und seiner bunten Musikertruppe. Dylan, der gerade eine Scheidung hinter sich hatte und offenbar beabsichtigte, sein Leben offenbar neu zu erfinden, hatte seine alten Hits und selbst all die gerade erst aufgenommenen neuen Songs radikal umgearbeitet, gepusht, amphetaminisiert und ihnen eine Dynamik mit auf den Weg gegeben, die neue Instrumente ebenso wie bisweilen ins Sarkastische tendierende Änderungen der Texte umfassten.
Glaubensbekenntnis zur Alternativkultur
Die Konzerte in Städten und Kleinstädten von New England und Massachusetts – Plymouth, Springfield, Falmouth oder Durham -, die zunächst etwa halb-incognito als Solo-Konzerte von Joan Baez angekündigt worden waren, durch Mundpropaganda und kurzfristig informierte Radiomoderatoren aber schnell ausverkauft waren, weil der Name Dylan fiel, waren bis zu fünfstündige Musikmarathons. Jeder der Musiker hatte sein Zeitfenster in der Show, den größten Teil vom Kuchen beanspruchte Bob Dylan selbst. Es gab Solo-Performances, Duette, Ensemble-Auftritte, eine Pause, fallende Vorhänge, einen für jedermann sichtbaren arabischen Teppich, auf dem die Band musizierte und zum Schluss zumeist Dylans Gassenhauer „Knockin‘ On Heaven’s Door“ mit Dutzenden von Musikern und Sängern auf der Bühne als Finale Grande.
Nie zuvor und nie wieder danach, so will es zumindest heute rückblickend erscheinen, war Dylan so in seinem Element, so energetisch und so intim nahe an seinen Fans, die zudem nicht wussten, wie ihnen geschah. Im November und Dezember 1975 spielte Dylan Lieder, die er später nie wieder singen sollte, und es gab Musiker-Konstellationen auf der Bühne, wie sie nie wieder zustande kommen sollten.
Eine limitierte Bonus-DVD zur „Live 1975“-Doppel-CD enthält ausgewählte Ausschnitte von Konzert-Performances, die den libertären Geist der Shows optisch dokumentieren: Dylan hat sich das Gesicht maskenhaft weiß geschminkt und trägt einen Hut mit Blumengesteck, er sieht aus wie ein aus der Commedia dell’Arte entstiegener Troubadour. Die Musiker sehen gleichfalls aus wie Freaks, die aus einem Raum-Zeit-Kontinuum entsprungen sind: Sie tragen Cowboyhüte, ihre Gürtel mit riesigen Schnallen halten schlabbernde Jeans, es gibt wallende Gewänder, bare Füße, überdimensionierte Sonnenbrillen und barocke Rüschen-Hemden – die „Rolling Thunder Review“ war auch und nicht zuletzt ein Glaubensbekenntnis zur Alternativkultur, lange bevor der Begriff „Alternative Rock“ das Anderssein zu einem Marketing-Aspekt degradierte.
AP
Filmemacher Dylan: Huldigung des American Independent Cinema
Eines der erklärten politischen Ziele der „Rolling Thunder Revue“ war es, öffentlichen Druck zu erzeugen, um dem acht Jahre zuvor unter skandalösen Umständen verhafteten und, wie man heute weiß, unschuldig zu lebenslänglicher Haft verurteilten schwarzen Box-Champion Rubin „Hurricane“ Carter einen zweiten, dieses Mal fairen Strafprozess zu ermöglichen. Die Weichen für die Wiederaufnahme dieses Prozesses waren von dem „Rubin Carter Defence Commitee“ Anfang der Siebziger gestellt worden, aber Bob Dylan und mit ihm die „Rolling Thunder Revue“ waren die prominenten Stimmungsmacher gewesen, die der Bewegung die so dringend benötigte Rückendeckung gaben. Rubin Carter ist nicht zuletzt dank dieses Engagements heute wieder auf freiem Fuß. Seinen berühmten Song „(That’s The Story Of The) Hurricane“ hatte Dylan nur wenige Tage vor Beginn der „Rolling Thunder Revue“ in einem Studio in Manhattan aufgenommen und auf der Tournee uraufgeführt. Seitdem hat er ihn nie wieder gespielt. Auf dem Album ist er in einer vor Kraft überberstenden Version enthalten.
Dylans finanzielles Vietnam
Nach einem lauen Aufguss der „Revue“ 1976 widmete sich Dylan das gesamte folgende Jahr dem Endschnitt seines Dokumentarfilms – und steigerte sich immer mehr in die Fertigstellung des längst aus dem Ruder zu laufen drohenden Monsterprojekts. Nie zuvor hatte Dylan sich mit einem Album so zeitintensiv befasst wie mit diesem Film – das Filmmaterial aber, Mitschnitte fast aller Auftritte, dazu Dutzende von Stunden improvisierter Spielszenen, in denen Mitglieder des Musiker-Trosses in wechselnden Rollen halbdokumentarische bis surrealistische Auftritte hatten, warfen alle Zeitpläne über den Haufen.
Das Ergebnis, der über vierstündige Film „Renaldo & Clara“, wurde von der Kritik vernichtet und vom Publikum schlichtweg ignoriert. Er entwickelte sich so zum Millionengrab für den Sänger und Produzenten, zu Dylans finanziellem Vietnam. Selbst der Versuch, kurze Zeit später mit einer auf die Hälfte der ursprünglichen Länge des Films hilflos zurechtgeschnipseltenen Version die schlechte Stimmung doch noch zu wenden, endete, und diesmal zu Recht, im Fiasko.
Aus heutiger Distanz betrachtet allerdings, erscheinen die Häme und die Schadenfreude, mit der Dylans ehrgeiziger Versuch bedacht wurde, sich auf filmischem und somit fremdem Terrain zu bewegen, ungerecht. Denn tatsächlich ist „Renaldo & Clara“ das vielleicht einzige filmische Dokument seiner Zeit, das mit mutigem Blick auf immer wieder vermeintlich Nebensächliches nicht nur tief blicken lässt in das Leben on the road – und huldigt dank seiner Cut-Up-Erzähltechnik dem amerikanischen Independent Cinema.
Als der Film 1978 endlich in die Kinos kam, war die in England ausgerufene Revolution des Punk Rock, die Menschen wie Dylan, McGuinn und Baez zu alten Dinosauriern erklärt hatte, in vollem Gange und sogar bereits dabei, ihre eigenen Kinder zu fressen. Nichts brauchte die Welt damals weniger, als eine Reminiszenz an das, was gerade für überwunden erklärt worden war. Vielleicht ist das auch der Grund, warum das Album „Live 1975 – The Rolling Thunder Revue“ nicht veröffentlicht wurde, als es noch ein frisches Zeitdokument dargestellt hätte.
Bob Dylan: „Live 1975: The Rolling Thunder Revue“ (Columbia/Sony Music) wurde am 2. Dezember 2002 veröffentlicht
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