Re: ROLLING STONE Mai 2008

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nail75

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Zu den „magic moments“ noch zwei Anmerkungen:

Die Nazis haben die Autobahnen nicht erfunden. Sie haben sie propagandistisch ausgeschlachtet, indem sie existierende Pläne aufgriffen und sie grandios inszenierten und verwirklichten. Erfunden haben sie sie nicht.

Zum Artikel zur Entstehung des englischen Rock’n’Roll: Der Autor spricht von einer Nachkriegsdepression in England, von der Rationierung der Lebensmittel und „Häusern in Trümmern“. Ich denke, das zeichnet ein Bild vom England der Nachkriegszeit, das etwas irreführend ist. Es ist ja nicht so, dass große Teile Englands in Trümmern gelegen hätten, die Schäden durch deutsche Bombenangriffe waren zwar lokal bedeutsam, aber marginal im Vergleich zu den Zerstörungen auf dem Kontinent. Die Rationierung von Lebensmitteln und anderen Waren bestand in der Tat lange nach dem Krieg fort, wurde aber 1954 beendet.

Was ich über diese Epoche gelesen habe, erzählt aber weniger von Depression, als vielmehr von einer gewissen Selbstzufriedenheit. Breite Bevölkerungsschichten profitierten von der Einführung des National Health Service durch die Laborregierung im Jahr 1948 und vom allgemeinen Wirtschaftswachstum. Darüber hinaus fühlte man sich als Sieger des 2. Weltkriegs. Dass das Wirtschaftswachstum hinter dem Deutschlands und Frankreichs zurückblieb und Großbritannien im Vergleich zurückfiel, wurde in den 1950ern noch nicht so beachtet. Ansätze einer britischen Identitätskrise sind angesichts des Verlusts des Empires, der außenpolitischen Marginalisierung und der archaischen, unflexiblen Gesellschaftsstruktur, die den zweiten Weltkrieg überdauert hatte, zwar schon in den 1950ern zu beobachten, ich frage mich allerdings, ob sie wirklich ausschlaggebend für die Entstehung der britischen Rockmusik waren.

Eine Darstellung, die ich gelesen habe, spricht davon, dass britische Musik in der Nachkriegszeit „unusually lively“ gewesen sei. Sie habe nicht nur zahlreiche kompositorische Werke hervorgebracht, sondern sei auch durch die Beteiligung breiterer Gesellschaftsschichten am Musikmachen gekennzeichnet gewesen. „School orchestras and amateur music groups flourished. Local festivals were springing up apace […]. A major factor in all this was state patronage through the Arts Council […].” (Morgan: Oxford History of Britain, S. 638).

Vielleicht gibt es daher eine andere Erklärung für die Geburt der englischen Rockmusik (im Sinne der 1950er Jahre). Junge Schüler, die in Schulen und kleinen Bands das Musikmachen gelernt hatten, benutzten sie, um ihren Empfindungen Ausdruck zu verleihen und griffen dabei auf Formen zurück, die in einem Land entstanden waren, das sich beispielsloser Prosperität erfreute, nämlich den USA. Die Entstehung einer Jugendkultur war außerdem weder ein britisches noch ein amerikanisches Phänomen, sondern ein globales. In Deutschland wurde James Dean genauso kultisch verehrt und Peter Kraus übernahm die Rolle von Cliff Richard, der freilich auch hierzulande bekannt war. Meine Mutter als Teil dieser Generation schwärmt noch heute von dieser Zeit, die für sie viel prägender war als die 1960er.

In England war die Entstehung der Rockmusik vermutlich eher Teil eines komplexen gesellschaftlichen Prozesses, in dem sich Klassenidentitäten durch Auftreten einer neuen Generation veränderten. Um genaueres zu sagen, müsste ich mich näher damit beschäftigen, aber schon in den Zitaten aus den damaligen Publikationen lässt sich erkennen, dass die Entwicklung von den etablierten Kräften als bedrohlich wahrgenommen wurde, weil sie sich gegen etablierte Konventionen von Musik verstieß und darüber hinaus etablierte Hierarchien (Schule, Elternhaus, Beruf) in Frage stellte. Vielleicht forderten hier einfach englische Jugendliche vornehmlich aus der Arbeiterklasse ihren Anteil an der neugewonnenen, aber ungleich verteilten Prosperität ein und benutzen populäre und neue Formen von Musik, um diesem Wunsch nach Selbstverwirklichung Ausdruck zu verleihen. Somit wären also gerade nicht die Depression, sondern die wachsende Prosperität sowie das Zusammenspiel eines veränderten Verständnisses von Körperlichkeit und Sexualität, neue Technologien und neue Freizeitangebote der Ursprung der englischen Rockmusik.

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Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum.