Re: Graphic Novels

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friedrich

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Was ich noch loswerden wollte.

Scott McCloud – The Sculptor (2015)

ScottMcCloud, verdienter Comic-Theoretiker und Autor von UNDERSTANDING COMICS, hier mit 500 Seiten Fiction. Ich quäle mich seit Tagen – nein, Wochen! – durch diesen Schinken und bin immer noch nicht durch. Die Geschichte ist eigentlich schnell erzählt: Ehrgeiziger, aber erfolgloser junger Künstler macht einen deal mit dem Teufel. Um zu Ruhm zu gelangen verkauft er sein Leben. Er hat 200 Tage Zeit, doch dann kommt etwas dazwischen: Eine Frau. So weit, so gut.

Nur walzt McCloud diese Geschichte so weit aus, führt so viele Themen (Kunst an sich, Kunst und Kommerz, Beziehungskisten, Familie, Freundschaft, Liebe, Leben, Tod …) und so viele Nebenfiguren (der böse Vermieter, der schwule Freund und Galeriemitarbeiter, der Kritiker, der reiche Kunstsammler und dessen Frau, die Ex-Lover (!) der weiblichen Hauptfigur und, und, und …) ein, dass sich die Geschichte behäbig und umständlich dahinzieht. Ich glaube, die Frau taucht nach 50 Seiten zum ersten mal auf, es dauert bestimmt noch mal 50 Seiten – nein: mehr als 100 Seiten! -, bis die zwei ein Paar werden und dann erfährt man über -zig Seiten alle möglichen Einzelheiten ihrer Vergangenheit, Beziehungsprobleme werden ausdiskutiert, über Kunst wird philosophiert usw. usf. bis es überhaupt mal wieder vorangeht und ich frage mich: Warum das alles? Und vor allem, warum muss alles explizit diskutiert werden, wo Comic doch zuvorderst eine visuelle Kunst ist? Gegen Ende nimmt die Geschichte etwas Fahrt auf, wenn die Zeit des Sculptors abzulaufen beginnt, aber bis dahin ist schon sehr viel Geduld beim Leser gefordert. Leider hat McCloud auch einen nur wenig individuellen Zeichenstil, findet aber auch keine Grafik, die auf die Geschichte und das Thema – immerhin geht es um einen Künstler – zugeschnitten ist. So wirkt SCULPTOR auf mich leider zu ambitioniert, zu lang, zu überladen und lässt mich emotional kalt. Schade!

Reinhard Kleist – Der Traum von Olympia (2015)

Die Geschichte der Langstreckenläuferin und Olympiateilnehmerin in Peking 2008 Samia Yusuf Omar, der als Frau in ihrer von Bürgerkrieg und islamistischen Terror zerrütteten Heimat Somalia das Training verboten wird, die aber voller Ehrgeiz, an den Olympischen Spielen 2012 in London teilzunehmen, aus ihrer Heimat flüchtet um nach Europa zu gelangen. Der Traum von Olympia ist ursprünglich seitenweise in der FAZ erschienen. Ein Thema also, das Aktualität hat und eine Geschichte, die stellvertretend für unzählige andere Flüchtlingschiksale steht. Das ist aber auch gleichzeitig Vor- und Nachteil des Buches. Denn Samia unterscheidet sich von anderen Flüchtlingen ausschließlich durch ihre Eigenschaft als Sportlerin mit einer – zumindest gewissen – Prominenz. Ansonsten erleidet sie das gleiche Flüchtlingsschicksal wie Tausende andere: Gewalt, Vertreibung, Trennung, Ausgeliefertsein an Schieber, Schmuggler und Betrüger, ständige Ungewissheit, Not und Lebensgefahr. Das stellt Reinhard Kleist auch alles dar, nur folgt eigentlich bei seiner Erzählung nur ein Ereignis auf das andere, ohne dass sich ein Spannungsbogen ergibt. Es ist mehr ein Bericht als eine Erzählung. Aus journalistischer Sicht mag das löblich sein, für ein Stück Comic-Literatur fehlt mir da aber etwas. Ich kann mich (mir? ;-)) des Eindrucks nicht erwehren, dass es hier eher darum geht, sich politisch korrekt und moralisch hochwertig mit dem Thema Flucht zu beschäftigen als darum, es in einer Geschichte gut zu erzählen. Das mag seitenweise in einer Tageszeitung abgedruckt funktionieren, als Buch lässt das aber zu wünschen übrig.

Gut, vorherige Bücher von Kleist hatten einfach bessere Geschichten als Grundlage. Die großartige Johnny Cash-Biografie, die haarsträubende Geschichte von Der Boxer. Da gibt das unbestritten tragische und leider millionenfach in ähnlicher Form erlebte Schicksal von Samia Yusuf Omar, wie man es täglich in der Zeitung lesen und im Fernsehen sehen kann, für eine gute Erzählung nicht genug her. Oder RK macht nicht genug daraus.

Zeichnerisch ist Reinhard Kleist hier Reinhard Kleist. Das ist okay, wirkt in diesem Falle für mich aber wie nicht viel mehr als routiniert. Ebenfalls schade!

Ergänzung: Eine Freundin erzählte mir gerade am Telefon, dass sie auch vom Erzählstil des Buches, in ihren Augen eine bloße Dopplung von Bild und Text, enttäuscht ist. Da ist was dran. Die Geschichte ist im Medium Comic nicht gut erzählt. Da bleibt Reinhard Kleist hinter seinen Möglichkeiten zurück. Hoffen wir auf sein nächstes, richtiges Buch!

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„Für mich ist Rock’n’Roll nach wie vor das beste Mittel, um Freundschaften zu schließen.“ (Greil Marcus)