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Mawil – Kinderland
(Reprodukt, 2014, 296 Seiten)
Mirco Watzke geht 1989 in die Klasse 7a der Erweiterten Oberschule Tamara Bunke in Berlin, Hauptstadt der DDR. Er ist schmächtig und schüchtern und kommt mit Büchern besser klar als mit seinen Schulkameraden. Und ständig hat er Ärger mit den bösen großen Jungs. Zufällig stellt sich heraus, dass Mirco Talent zum Tischtennisspielen hat und damit auf dem Schulhof glänzen kann. Und dann ist da noch Torsten, der Neue aus der 7b, ebenfalls ein Außenseiter, aber anders als Mirko trotzig und selbstbewusst. Zwischen den beiden Jungs entwickelt sich eine ungleiche Freundschaft. Gemeinsam verschwören sie sich nicht nur gegen die großen Jungs sondern auch gegen die alles kontrollieren wollende FDJ und die Erwachsenenwelt. Nachdem sie die beiden Anführer der Großen beinahe beim Tischtennis geschlagen haben, organisieren sie ein Tischtennisturnier. Doch dann kommt alles ganz anders.
Kaum hat man Kinderland aufgeschlagen, erkennt man nicht nur die triste Farbpalette des Ostens. Man meint auch Braunkohlequalm und Zweitakter-Abgase zu riechen und das Rumpeln der Ikarus-Busse und Straßenbahnen zu hören, so großartig gelingt es Mawil, die Athmosphäre in der DDR der späten 80er einzufangen. Überall sind beiläufig kleine Details aus dem Alltag der DDR eingestreut: Gleich zu Anfang in Mircos Kinderzimmer Pittiplatsch und ein Mosaik-Heft, Kleidungsstücke die nach Poly aussehen, trostlose Plattenbauten, Warteschlangen vor der Fleischerei und die Redewendung „das fetzt urst ein“, die ich schon lange nicht mehr gehört habe. Ganz nebenbei erfährt man, dass Tischtennisschläger in der DDR Mangelware waren, weil dieser Sport nicht gefördert wurde. Die Chinesen machten alle Chancen auf olympische Medaillen dahin. Und auch Depeche Mode spielen eine kleine Nebenrolle.
Worum geht es in Kinderland? Ein Tischtennisturnier unter Kindern? Die Freundschaft zwischen Mirco und Torsten? Die Atmosphäre in der DDR kurz vorm Mauerfall? Oder darum, wie Mirco die Wandlung vom schüchternen Kind zum selbstbewussten Heranwachsenden durchmacht? Vielleicht ist es die große Kunst von Mawil, dass er verschiedene Sichtweisen zulässt. Er erzählt aus der Perspektive eines 12-jährigen, dem die Dramatik der politischen Ereignisse im Jahr 1989 nicht bewusst ist. Nur nebenbei wird erwähnt, das eine ganze Familie scheinbar spurlos verschwindet, dass auch Mircos Eltern übers Rübermachen nachdenken, und ganz nebenbei sieht der Leser, dass die 200%ig linientreue Pionierleiterin Frau Kranz über dem bevorstehenden Untergang der DDR verzweifelt. Für Mirco jedoch zählt nur das Tischtennisturnier und seine Freundschaft zu Torsten. Im Getümmel an der Mauer am 9. November hat er Angst, seine Eltern zu verlieren und erlebt den Mauerfall bloß als Ärgernis – warum, darf ich hier aber nicht verraten.
Auch wenn Mawil seine Figuren in einem scheinbar naiven Funny-Stil zeichnet, so gelingt es ihm, ihnen Leben einzuhauchen. Mimik, Gestik und die Elastizität der Bewegungen sind so lebendig, dass man mit ihnen mitfühlt, dass sie nicht nur Figuren sind, sondern zu Charakteren werden. Und dann gibt es da noch etwas: Kaum habe ich je so raffinierte und spektakuläre Übergänge von einem Panel zum anderen und von einer Seite zur anderen gesehen. Mal dehnt Mawil eine dramatische Tischtennisangabe in Superzeitlupe mit spektakulären Perspektivwechseln über mehr als zwei Seiten, mal fasst er aber auch einen mehrtägigen Besuch bei den Großeltern auf gerade mal zwei Seiten zusammen. Er schneidet von einem Kirchenfenster mit Jesusbild auf die Parade der FDJ, von einem Close-Up eines Gesichts auf einen Filmausschnitt aus Winnetou. Zunächst ist das oft irritierend aber dann ist es nicht nur spannend sondern lässt erst so richtig die Bilder im eigenen Kopf ablaufen.
Ich musste beim Lesen mehrmals laut lachen, an anderen Stellen war ich tief gerührt. Weltniveau!
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„Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)