Re: Marvin Gaye – What’s Going On

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petsounds

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„ENDLICH ENTSPANNE: Marvin Gaye, »What`s Going On« (1971)

Never meet your idols. In ihren Hollywood-Memoiren »You`ll Never Eat Lunch in This Town Again« berichtet die Filmproduzentin Julia Phillips, wie sie Anfang der Achtziger zusammen mit einem Bekannten bei Marvin Gaye vorbeisah. Während man mehr oder minder angeregt plauderte, vertrieb sich der König des Erotik-Soul die Zeit mit dem an sich nicht besonders ungewöhnlichen Steckenpferd, unverklemmt unter der Bettdecke zu onanieren.
Ein gutes Jahrzehnt zuvor war der zwanghafte Masturbant nach einer schier endlosen Kette von Top- 40-Sellern mit »1 Heard it Through the Grapevine« endgültig in den Rang eines schwarzen Frank Sinatra aufgerückt – als künstlerische Speerspitze seiner Plattenfirma Motown, die den US-Markt seit den frühen Sechzigern mit perfekt gesüßtem, ganz auf weiße Besserverdiener zugeschnittenem Praline Pop a la Four Tops und Diana Ross überschwemmte. Gaye aber wollte mehr sein als nur eine weitere auswechselbare Crooner-Marionette. Das Konzeptalbum »What`s Going On«, angeregt durch die Rückkehr seines Bruders aus Vietnam und komplett unter seiner Regie entstanden, sollte das Amerika der Nixon-Ära in einen scharfen sozialkritischen Fokus nehmen; was bei Labelbesitzer und Schwippschwager Berry Gordy (Gaye war mit seiner Schwester Anna verheiratet), seit jeher enthusiastischer Anhänger des Black Capitalism und alles andere als ein Freund links angehauchter Weltverbesserer, auf wenig Gegenliebe stieß. »Das«, so sein Verdikt über das Titelstück, »ist der größte Dreck, der mir je zu Ohren gekommen ist.«
Nach dem bombastischen Erfolg von »What`s Going On« – seinerzeit über ein Jahr in den US-Albumcharts – durfte man getrost Versöhnung feiern. Auch Gordys Befürchtung, die Kuschelfabrik Motown würde mit Gayes Zeitkritik in die unangenehme Nähe von Black Power und Antikriegs-Aktivisten gerückt, erwies sich bei etwas genauerem Hinhören als völlig unbegründet. Was im Gewand eines Protestalbums daherkommt, birgt den aufrüttelnden Effekt einer handwarmen Honigmilch: Wenn Gaye mit bewährt sameweichem Timbre von der Hölle des Krieges und der todgeweihten Welt singt, stellt sich schnell heraus, daß sich spirituelle Tiefe und geistiger Flachsinn, heiliger Ernst und heilige Einfalt keineswegs ausschließen; die Seelenbaim-Kurzoper »Save the Children« eröffnet dem Anliegenskitsch erbaulich säuselnde Dimensionen, in die selbst ein Michael Jackson (von Jacko höchstpersönlich komponiert, stellt USA tor Africas »We are the World « einen weiteren Höhepunkt ästhetischen Kindesmißbrauchs dar) nie vorgedrungen ist.
Dazu zeitigte Gayes so hart erkämpfte künstlerische Emanzipation von Motowns Meterware einen unerreicht sahnigen Massenverführungs-Sound, verfeinert mit schwelgerischen Multi-Track-Vocals im genießerisch plätschernden Wellness-Bad von Geigen und Flöten, Zimbeln und Xylophon, fingerschnippenden Salsa-Beats und schmeichelnden Background-Chören – ebenso makelloser wie meisterlich durchgelackter Orchestral-Funk, der Generationen von Brigitte-Leserinnen dazu animiert hat, das Massageöl für ein entkrampftes Stündchen aus dem Allibert zu holen.
Endlich entspannen. Mal zu »unserem John Lennon« (Janet Jackson), mal zum Dylan des Sozial-Souls geadelt, beschränkte sich Gaye auf späteren Platten vorwiegend auf sinnlich angerührte Auszieh-Grooves wie »Let`s Get lt On«, die hauptsächlich musikalische Triebtäter wie Luther Vandross und Lionel Richie inspirierten. Mit seinem Spätwerk »Midnight Love« wechselte er vom Part des Mahners vollends in die Rolle des schwarzen Sex-Papsts, die er – ausgestattet mit Peitsche, umschnallbaren Dildos und Pyramiden von Koks und Angel Dust – auch in seinem Privatleben ausfüllte; mittlerweile erinnerte seine schlafzimmerliche Schmuseburg »nicht von ungefähr an Der Exorzist«, so David Ritz in seiner Gaye-Biographie »Divided Soul«. Gayes letzter Hit war die schwüle Porno-Nummer »Sexual Healing«. Zur selben Zeit verriet er dem Blues-&-Soul-Magazin, wie er der Nachwelt in Erinnerung zu bleiben wünschte: nämlich »als der vielleicht größte Künstler, der je auf Erden wandelte«. Sein größtes Problem hatte er bereits auf dem vorhergehenden Album in einen treffenden Songtitel gefaßt: Ego Tripping Out.“

Sky Nonhoff: Don’t believe the hype! Die meistüberschätzten Platten der Popgeschichte, Frankfurt a.M. 2005, 73-75.

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