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The Poem Is You
Wohnungsbesichtungen sind Angelegenheiten, an denen man bröckelnden Putz und vergilbtes Linoleum vermutet. Die große Liebe allerdings eher selten. Es ist 2004 und es ist in Berlin, als ein junger Dresdner sein Herz auf der Stelle an ein hübsches brünettes Mädchen aus Brüssel verschenkt, um wenig später mit ihr eine Beziehung samt Band einzugehen. Als sich Marie Reiter und Daniel Bock drei Jahre später umblicken, stehen sie vor einem großen Haufen aus Liedern und es fühlt sich so an, als hätten sie Tag und Nacht an nichts anderem als an diesen Songs gearbeitet. Und wahrscheinlich haben sie das in ihrem Inneren sogar. Funkelnde Alternative Country/Neofolk-Kleinode sind es geworden, die süßer nach Westen schmecken, als eine honigverschmierte kalifornische Bärenpfote. Reiter und Bock beginnen endlich ihre Lieder aufzunehmen, mit Schlagzeug, knarzigen Gitarren, Bass, Fagott und einer Band, die sich THE POEM IS YOU nennt und mittlerweile aus sechs Mittzwanzigern aus dem Dresdner Raum besteht. Zwei vollwertige Alben und eine LP entstehen allein 2007, eine Ausbeule, die selbst Ryan Adams neidisch machen dürfte. Denoch erklärt sich der nahezu unbändige kreative Output von THE POEM IS YOU nicht durch immer wiederkehrendes thematisches Breittreten persönlicher Befindlichkeiten. „Wir bemühen uns schon, interessantere Geschichten zu finden als unsere eigenen“, erklärt Daniel Bock, der singt und die Gitarre spielt. „Außerdem kann man ja nicht 10.000 gebrochene Herzen haben in seinem Leben.“ So handeln die Songs auf „The promiscd south“. dem jüngeren der beiden Alben, beispielsweise von tragischen Geschichten und Charakteren wie Old Harold, einem Lebemann, der nach einem entbehrungslosen Leben dennoch in Einsamkeit stirbt. Oder von dem Konflikt eines Kindes, das in „99 Problems“ mit ansehen muss, wie der Vater die untreue Mutter erschießt. „Dies ist auch der Grund, warum ein Teil der Band in der großen Stadt Berlin lebt. Hier schlummern die Geschichten, die uns interessieren.“ so Bock.
Alltäglich ist das beileibe nicht, dass eine den naturverbundenen Genres Country und Folk verfallene Band bewusst den Lärm und den Trubel der Metropole sucht. Aber auch das unterstreicht die Ausnahmestellung, die THE POEM IS YOU nicht nur in der ostdeutschen Musiklandschaft einnehmen, Kaum eine Band schüttelt müheloser Ohrwürmer und Hits aus dem Ärmel, kaum eine Band (lässt man die großen Low einmal außen vor) versteht es besser, kantigen Männergesang mit weicher Frauenstimme zu verknoten. Live ist das dann eine betörende Mischung aus unschuldigem Schulchor, Divengezicke, Engelsposaunen, polternden Riffs und Beatlesharmonien, in der sich die Sechsmann-Besetzung für 60 Minuten in ein schnaubendes Indieorchester verwandelt. Dass die Band dabei noch ungesignt durch die Lande tuckert, grenzt fast schon an einen mittelschweren Skandal.
Gut nur, dass THE POEM IS YOU ohnehin gerne auf Reisen sind, man auch ohne Finanzpolster und Verkaufserfolg hinausgezogen wird zu den Geschichten zwischen den Orten. Denn lange hält es die Bandmitglieder nicht an ein und demselben Ort. „Das Verschwinden, das In-Bewegung-Sein und die Sehnsucht nach dem „Promised South“ – das sind schon wichtige Aspekte in unseren privaten Leben, wie auch in unserem Schaffen als Band“, verrät Marie Reiter. Selbst die Berliner Wohnung von damals wurde mittlerweile wieder aufgegeben. In ihr wohnt wahrscheinlich längst ein anderes glückliches Liebespaar.
TEXT. MARIO CETTI
FOTO: PR
melodie & rhythmus Sachsen | November 2007 S9
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Man braucht nur ein klein bisschen Glück, dann beginnt alles wieder von vorn.