Re: The Class of ’82

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bender-rodriguez

Registriert seit: 07.09.2005

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otisDu scheinst ein Feindbild erlebt zu haben, das es nach meiner Erfahrung längst nicht mehr gab. Das Radio war in Teilen so wie heute, mainstream. Gute Sendungen suchte man keinesfalls vergebens (genauso wie 10 Jahre zuvor und auch heute noch, es gibt und gab sie) und der Dealer mit Santana-Seligkeit war kein guter. Das hat sich aber alles bis heute nicht geändert („Vinyl? Wer hört denn huete noch Vinyl!“) und war vorher auch schon so. 20 Jahre früher allerdings noch um einiges schlimmer.
Nie zuvor gab es so viele und so gute Plattenläden wie zu jener Zeit, welche nach meiner Erfahrung in erster Linie von Leuten lebten, die du reichlich geringschätzig attributierst mit heute „Ü40 … und 1979 abrupt damit aufhörte, jung zu sein…“. Es waren in D weniger die Ü18, die diese Läden am Leben hielten, die kauften vielleicht mal ein zwei Platten, als eher die Ü25, die mittlerweile zu etwas Geld gekommen waren.
Ich selber habe nie zuvor eine so radikale Offenheit erlebt bei Hörern und Machern. Ich weiß nicht, wie alt du warst, aus jugendlicher Sicht sieht manches extremer aus, als es war.
Und wenn jemand 1982 zu einem schlechten Jahrgang macht, dann ist das eine recht ignorante Einzelmeinung, doch keineswegs für irgendetwas repräsentativ. Es deckt sich allerdings auch mit meinen Erfahrungen, dass gerade viele der Ende60/Anfang70 Musiksozialisierten die härtesten Verfechter der „alten“ Schule waren (manche bis heute!!).

Nun gut! Wir haben die persönlichen Erlebnis-/Erfahrungsberichte von Mikko, Herr Rossi, Mistadobalina, Bender Rodriguez und mittlerweile auch Zappa1 zu dieser betreffenden Zeit gelesen – dabei betone ich ganz besonders das „persönlich“. D.h., die Erlebniswerte sind natürlich bis zu einem gewissen Grad rein subjektiv – und natürlich verschieden (was in der Natur der Sache liegt). Wenn Herr Rossi’s Perspektive auf das ganze Geschehen vom Rande des Teutoburger Waldes aus aufgenommen wurde, so fußt meine auf den Beobachtungen, die ich in südhessischer Provinz machen durfte – so weit scheinen die beiden Gegenden ja nicht auseinander zu liegen, oder? ;-) Wer natürlich als junger Mensch Anfang ’80 in den „Metropolen“ der Republik lebte, dem lag (offenbar?) die Stilvielfalt förmlich zu Füssen, der Hauch des Aufbruchs („Winds of Change“?) umwehte die Nase beim Passieren jedes Hinterhof-Plattenladens, bei jedem Dreh am Radioknopf…

Es geht nur sekundär um „Feindbilder“. Aber trotzdem – und leider – sind sie da! Und kommen immer wieder durch! Man hat sie sich mühevoll erarbeitet (oder flogen einem ungefragt einfach zu) und sie wurden zu einer geliebten Gewohnheit. Irgendwo in einer Ecke des Plattenregals, in einer Bemerkung in diesem Forum, in einer mickerigen Geste oder Haltung, sie haben überlebt. Selbstverständlich besitze ich welche und gebe es ohne Umschweife zu. So wie mein „Santana“-Plattenhändler bei mir ist’s bei jemand anderem vielleicht ein DJ, der sich (gefühlt) arrogant weigerte, 1982/83 noch was von Supertramp zu spielen – was weiß ich… Aber der Graben, von dem Herr Rossi sprach, an dem wurde seinerzeit eifrig gewerkelt – und ist bis heute nur stellenweise zugeschüttet worden. Übrigens fing man Anfang der Neunziger an, einen neuen Graben auszuheben – aber das ist eine andere Geschichte! Oder die immer gleiche…

Tja, da saß ich Anfang der Achtziger in meinem südhessischen Kaff, umgeben von Kumpels, die BJH, Toto oder Styx als die Zukunft der (ernsthaften) Popmusik handelten – dies suggerierte ihnen zumindest ein gut Teil des regionalen Hörfunks. Wie Schade, daß ich im Radioknopfdrehen noch nie Geduld bewiesen habe, so hätte ich sicherlich mal die eine oder die andere Alternative im Äther erwischt. Ausnahmen bestätigen ja die Regel, oder? Und warum sollte die Radiolandschaft damals besser als die heutige gewesen sein? Aber versucht man manchmal manchen Zeitgenossen Glauben zu schenken, so war das Radio „früher immer besser“. Ich behaupte (fast) das Gegenteil: Früher (1982) waren Depeche Mode in einem Teil des Moderatorenjargons eine „Teenie-Plastik-Eintagsfliegen“-Band – und heute „eine der grössten Band der“ (und jetzt kommt’s:) „Rockgeschichte“! Ja, genau: ROCK-Geschichte. Wenn das nicht mal eine Verbesserung der Hörfunkkultur ist… – die Moderationskollegen von 1982 rotieren in ihren Rollstühlen…

Nein, selbst ist der (junge) Mann: was Radio und Kumpels und Umfeld nicht bieten konnten, das konnte sicherlich der Fachhandel erfüllen. Und der blühte seinerzeit. Otis, ich muß Dir recht geben, Plattenläden gab’s zuhauf. Viele gute – aber auch verdammt viele miese! Die Masse machts! Vor allem den Unterschied. Die einen wollten den ganzen „neumodischen Kram“ nicht im Sortiment – die anderen primär nur diesen. Den einen war’s bereits suspekt, aus stilistischen, kommerziellen oder welchen Gründen auch immer, eine Simple Minds-Platte (nur ein Beispiel!) im Sortiment zu führen – den anderen aus scheinbar gegenteiligen Überlegungen wiederum nur mit Ach und Weh ein Fach für die Band einzurichten! Hoppla, so weit schienen die ja gar nicht auseinander zu sein, oder? ;-) Egal, bei aller (noch) vorhandener Konsumfreudigkeit der (Platten-)Käufer (übrigens egal in welchem Alter – man konnte Leute beobachten, die unter 20 waren und ihr ganzes Geld in Neuerscheinungen investierten, genauso wie die um die Vierzigjährigen, die das gleiche taten…), diverse Plattenladenbesitzer trieben eine Spezialisierung voran, die sie noch teuer zu stehen kommen sollte. Ganz besonders diese, die sich der CD verweigerten – wie die Geschichte ausging, wissen wir ja alle.

Kommen wir zum Punkt „extreme jugendliche Sicht“. Aber, na klar, diese hat man als Heranwachsender – Abgrenzung ist alles in diesem Alter. Da wir hier über „The Class of ’82“ diskutieren, ist es nur allzu selbstverständlich, daß ich meine damalige Sichtweise der Dinge hier wiedergebe. Aber wie ich selber feststelle, hat sich diese Sichtweise in bestimmten Fällen mit den Jahren nicht wesentlich verändert – aber abgeschwächt. Eine gewisse Altersmildheit womöglich? Oder doch latente Kindsköpfigkeit? Wer weiß? Egal, gute Überleitung zu dem „Ü40-Geringschätzig“-Vorwurf: Ich selbst bin Ü40 – und behaupte von mir selber, nicht „stehengeblieben“ zu sein. Dies bestätigt mir mein Umfeld immer wieder auf’s neue. Vielleicht wirke ich aufgrund meiner (hier so registrierten) „80s-Verbundenheit“ auch wie ein ewig Gestriger. Aber ich empfinde dies nicht so! Es geht mir auch nicht um die Ü40-Grenze oder um die Siebziger-Rock-Fetischisten. Ein „Stehengebliebener“ kann auch ein Ü30 sein, der stur und fest behauptet, nach Nirvana hätte die Musiklandschaft nichts mehr wesentliches hergegeben. Ein „Stehengebliebener“ kann auch der heute Zwanzigjährige 60’s-Verehrer sein, der ausser Dylan/Stones/Beatles nichts an sich ran lässt. Ja, und im Umkehrschluss bin ich am Ende doch ein „Stehengebliebener“: jemand, der immer noch an neuen musikalischen Ausdrucksformen interessiert ist – und das mit einer über fünfundzwanzigjährigen Tradition… ;-)

O.k., das war’s für’s erste – Fortsetzung folgt (und dann wieder expliziter auf „The Class of ’82“ eingehend…)!

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I mean, being a robot's great - but we don't have emotions and sometimes that makes me very sad