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FefWenn ich z.B. Ornette Colemans Golden Circle-Aufnahmen, John Coltranes Love Supreme und Miles Davis Miles Smiles hernehme: Was ist da Free Jazz und was nicht? Was ist es sonst? Und WARUM?
Das frag ich mich. Wie seht das Ihr?
Ornette: ja
Miles: nein
Trane: nein (aber ein kleines jein dazu)
Miles bewegt sich in festen Formen, die Stücke haben Strukturen, die komplex sind aber faszinierenderweise zugleich auch eine unglaublich Klarheit und Einfachkeit erlauben… es gibt feste Formen (also Taktzahlen, Strukturen, die sich wiederholen, dazu natürlich – wie immer bei Miles – einen Takt (eigentlich immer 4/4, ganz selten mal gab’s 6/8, etwa in „All Blues“ und in „Mademoisselle Mabry“). Da kann man schwer von Free Jazz reden.
Das faszinierende ist aber die erwähnte Klarheit, die in den Stücken auch möglich ist – sie lassen den Solisten oft die Wahl zwischen der Form oder einem freieren (modalen) Approach, vieles bleibt in der Schwebe, ist nicht eindeutig festgelegt – auf dem Papier (im „Real Book“) sehen die Stücke meist aber verdammt schwierig aus. Die Kompositionen stammen übrigens zum Grossteil von Shorter und Hancock… ich rede da jetzt nicht nur von „Miles Smiles“ sondern auch von „E.S.P.“, „The Sorcerer“ und „Nefertiti“.
Coltrane ist ein etwas schwierigerer Fall. „A Love Supreme“ ist gewissermassen der modale Jazz in seiner Vollendung. Vamps, offene Formen, keine sich repetierenden Akkord-Folgen oder Taktzahlen. Dennoch gibt’s ein festes Metrum, einen Takt. Mit der Ausnahme vom letzten „movement“ der Suite, in dem Coltrane seinen Text, seinen „psalm“ spielt. Da gibt’s kein festes Metrum mehr, aber das klingt abgesehen davon auch noch nicht wirklich frei…müsste man drüber diskutieren. Die Live-Version der Suite von Antibes 1965 ist da schon einen wesentlichen Schritt weiter, steht dann aber auch in unmittelbarer Nachbarschaft zu den ersten wirklich freien Studio-Sessions von Coltrane im Sommer 1965. Ebenso sind die Half Note Aufnahmen auf der Doppel-CD „One Down, One Up“ (oder umgekehrt) ein anderes Kaliber – aber auch da wird in Takten gespielt, also in einer wie auch immer reduzierten Form verblieben, und was Coltrane bläst steht stets in einer Relation zum Thema des Stückes und zu dessen Form und Struktur.
Coleman ist ein anderer Fall… auch wenn seine Musik oft tonal klingt (man kann manche Soli fast komplett einer einfachen Dur-Tonleiter zuordnen, mit der einen oder anderen Lizenz hie und da, wie sie ja auch beim Improvisieren über funktionsharmonisch strukturierte Stücke erlaubt ist) ist bei ihm die Auflösung der Form einen ganzen Schritt weiter, erst recht 1965 im unglaublichen Trio mit David Izenzon und Charles Moffett. Schon mit Haden und Blackwell wurden die Takte und Formen oft aufgebrochen, der feste Beat durch einen Puls ersetzt (Tony Williams macht das bei Miles auch, aber die anderen ziehen daraus eben nicht dieselben Konsequenzen wie in Ornettes Band, Williams‘ Puls ist auch nur im Wechselspiel mit dem Anker und der Erdung, die Carters Bass bildet, so faszinierend).
Bei Coleman gibt’s zwar auch noch Themen, aber schon die spielen oft mit den herkömmlichen Formen (ist das die „Blues Connotation“, in der aus der 12-taktigen Blues-Form eine 11,5-taktige gemacht wird, indem am Ende eifnach zwei Schläge weggestrichen werden?).
Zum Zeitpunkt der Aufnahmen in Stockholm ist Ornettes Musik allerdings sowieso eindeutig Free Jazz – sein Trompeten und Geigenspiel, beides völlig an jeglichen Konventionen vorbei, nur auf der Suche nach Klängen, ist da nochmal ein oder zwei Schritte weiter als sein Saxophonspiel (das bis heute stark vom Blues, seinen texanischen Roots, zehrt). Ich will damit nicht sagen, dass es besser ist (eher nicht, aber es gehört alles zur Persönlichkeit von Coleman, so wie die seltsamen Tanzschritte und die kaum verständlichen Rezitationen eben auch zu Cecil Taylors musikalischer Personlichkeit gehören).
Ich hoffe, diese Erklärungen sind einigermassen verständlich und nachvollziehbar. Es ist ganz allgemein schwierig, Free Jazz zu fassen und zu definieren.
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