Re: Gibt es objektive Kriterien für die Beurteilung von Rock/Popmusik

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nail75

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Ich frage mich jedoch, ob sich hinter diesen Äußerungen mehr als eine – in Deinem Fall durch jahrzehntelange Recherchen und Beschäftigungen mit der Materie entwickelte – Meinung steckt.

Konkret meine ich die These „Bands, die mit einem Album debütieren, taugen nichts.“ Ich finde diese These sowohl plausibel, als auch begründbar. Du nennst diese These oben jedoch „empirisch überprüfbar“ und das bereitet mir Schwierigkeiten.

„Empirische“ Erkenntnisse sind nun, meinem Verständnis nach, mit einer wissenschaftlichen Methode gewonnene Erkenntnisse. Da liegt natürlich die Frage nahe, welche Methode Du verwendet hast. Ich rate einfach mal und nenne: Studium der Musik sowie des Kontextes, in dem sie entstanden ist, Recherche bezüglich der Personen, des Stils mit Hilfe von Konzertbesuchen, Interviews, Besuchen vor Ort usw. Wenn noch mehr dazukommt, dann kannst Du das ja ergänzen.

Wenn ich also Deine Erkenntnisse überprüfen will, dann muss ich gleichsam diese oder ähnliche Studien durchführen. Nehmen wir die obige Aussage als empirisch zu überprüfende These und formulieren sie etwa anders. „Bands, die mit einem Album debütieren, sind qualitativ minderwertig (im Vergleich zu Bands, die mit einer Single debütieren)“ Dazu bilden wir eine Vergleichsmenge A (Bands, die mit einem Album debütierten) und eine Vergleichsmenge B (Bands, die mit einer Single debütierten).

Das ist kein Problem. Das Problem ist der qualitative Vergleichsmaßstab. Wie operationalisiere ich jetzt „Qualität“, d.h. wie unterscheide ich gute von schlechten Bands? Da gibt es nun verschiedene Möglichkeiten, einen indirekten und einen direkten Weg. Der erste basiert letztlich auf der Aggregierung der Meinungen anderer Menschen: Ich könnte beispielsweise die Verkaufszahlen zum Erscheinungszeitpunkt des Debuts nehmen. Oder die Verkaufszahlen über einen längeren Zeitraum. Man könnte auch die Bewertungen verschiedener Kritiker sammeln (wie bei metacritic.com) und damit ein System zur Messung von Qualität erstellen. Ich nehme mal einfach an, dass Du von diesen Methoden wenig halten würdest.

Die andere (direkte) Methode basiert darauf, Bewertungsmaßstäbe zu entwickeln, um den Faktor der Qualität zu messen. Man könnte die Qualität der Produktion, des Songwritings, der Aufnahme, der instrumentellen Fähigkeiten als Maßstab nehmen. Das Problem bei diesen Kriterien ist jedoch, dass ihre Feststellung in der Regel mit sehr subjektiven Werturteilen verbunden ist. In der Popmusik würde man zusätzlich vor dem Problem stehen, dass die am Besten produzierte oder gespielte Musik häufig nicht unbedingt die beste Musik darstellt. Welche Kriterien sollte man also verwenden?

Eine interessante Möglichkeit könnte die quantitative Überprüfung von Coverversionen bilden. Je häufiger die Lieder einer Band von anderen Künstlern gecovert wurden, desto – bereinigt nach Zeit und Veröffentlichungsoutput – qualitativ besser ist sie. Dieses System hätte jedoch den Nachteil, dass es bestimmte grundsätzliche Unterschiede zwischen verschiedenen Musikstilen ignoriert. Außerdem gibt es sicherlich Bands, die obwohl sehr gut, wenig gecovert worden sind. Im Country/Folk-Bereich könnte das System dennoch am Ehesten ein sinnvolles Ergebnis erbringen.

Nehmen wir an, jemand hat eine Reihe von Kriterien entwickelt (welche auch immer das sind) und versucht mit diesen, seine These zu unterstützen. Wenn man jetzt eine Tabelle erstellte (nicht unähnlich einer der Stiftung Warentest), dann würde man vermutlich erkennen, dass die Vergabe von positiven oder negativen Bewertungen von anderen Experten in Frage gestellt würde. Einige würden sicherlich auch zustimmen, einige mehr oder weniger ablehend reagieren. Einige würden sicherlich auch erklären, dass die Maßstäbe oder deren Gewichtung falsch sind und würde eigene Vorschläge machen.

Am Ende hätte man dann Hunderte von Listen, die alle mehr oder weniger verschiedene Aussagen zur Verifizierung (ist strenggenommen nicht möglich, es könnte ja morgen eine Band kommen, die das Gegenteil beweist) und Widerlegung Deiner These enthielten. Wie sollte man jetzt aber entscheiden, welche richtig ist?

In den Naturwissenschaften kann man Thesen durch Experimente falsifizieren, selbst in den Geistes- und Sozialwissenschaften, ist es möglich, Thesen zu widerlegen (wenn es auch schwieriger ist). Wie widerlege ich jedoch eine These wie „A ist besser als B“? Es muss eine Möglichkeit geben, diese These zu verwerfen, damit sie empirisch überprüfbar ist. Aber damit das geschieht, brauchen wir Kriterien, um zu entscheiden, was „Qualität“ in der Musik darstellt. Ohne die, haben wir letztlich nur Meinungen, die auf verschiedenen Ansprüchen an Musik basieren und sich nur durch das vom Zuhörer erworbene Wissen über Musik unterscheiden. Das macht dieses Wissen nicht wertlos, es erschwert jedoch, überhaupt empirisch überprüfbare Thesen zu formulieren!

Ein Beispiel: Nehmen wir King Crimson, die – soweit ich das weiß – mit einem Album debütiert haben (Wenn dem nicht so ist, egal. Dann suchen wir eine andere Prog-Band). Du würdest vermutlich erklären, dass die Band nichts taugt. (Wenn nicht, dann nehmen wir eine andere Prog-Band). Jetzt müsste ich, um Deine These (jedenfalls theoretisch) widerlegen zu können, Deine Maßstäbe kennen, auf deren Grundlage Du dieses Urteil entwickelt hast.

Selbst wenn Du diese Maßstäbe liefern könntest (und sie würden mich definitiv interessieren), könnte ich Deine Bewertung aushebeln, indem ich behauptete, Deine Maßstäbe wären falsch. Stattdessen nehme ich meine eigenen Maßstäbe: Bands mit langen Songs sind besser als Bands mit kurzen Songs und Bands, die ein Mellotron verwenden, schlagen alle anderen Bands.

Das ist nun erkennbarer Unsinn, aber damit könnte ich zeigen, dass King Crimson die beste Band überhaupt sind. Du könntest meine Bewertungsmaßstäbe attackieren, aber letztlich hättest Du – meiner Ansicht nach – keine Möglichkeit meine These zu widerlegen. Mit anderen Worten: Wir hätten wieder „nur“ zwei Meinungen und keine Möglichkeit zu entscheiden, welche die „richtige“ ist. Das ist ein Dilemma, das jeder hat, der über Musik spricht. So gerne wir auch objektive Kriterien hätten, es fällt uns unglaublich schwer, sie zu entwickeln, wenn es konkret wird. Wie sollen wir dieses Dilemma nun lösen? Ich habe darauf keine Antwort.

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Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum.