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Neuer Gedanke, während ich gerade zu Studienzwecken die Reichel-CD höre (danke, Dirk!). Zu „Volxlieder“ selbst schreibe ich vielleicht mal mehr im dazugehörigen Thread.
Also, meine These, losgelöst davon, noch in Rohform, Widerspruch willkommen: eine wirkliche deutsche Country-Platte kann es vermutlich deshalb nicht geben, weil der Deutsche nicht den Blues (nicht nur das Gefühl selbst, sondern mit allem drum und dran) hat bzw. ihn jedenfalls nicht musikalisch adäquat umsetzen kann oder will. Zwar mag man im US-Country auch Arrangements und Motive wiederfinden, die in ihrer Schlichtheit der Einfalt des deutschen Schlagers bzw. der volkstümlichen Musik ähneln. Gleichwohl sind die vorherrschenden Themen des Country die des indivduellen Schmerzes, Verlustes und Versagens,wie ja auch der alte Witz mit der Frage zeigt, was passiert, wenn man eine Country-Platte rückwärts spielt. Die Umsetzung des Schmerzes (Blues) in Songs, mag sie auch mal mehr und mal weniger augenzwinkernd und pointiert geschehen, mal spartanisch roh und mal verkitscht, ist doch meist auf unverstellte Wahrhaftigkeit und (Be-)Rührung des Hörers – im Sinne von Empathie – gerichtet. Es gibt auch andere Themen, aber hier schlägt nach meinem Verständnis das Herz der Country Musik.
Nun fällt mir jedenfalls spontan bei deutschen Künstlern (insbesondere bei mir lieben) keiner ein, der völlig unverstellt, unironisch, schutzlos und voller Inbrunst darüber singt, dass seine Welt in Stücke fällt. Im Schlager werden vornehmlich Idyllen gezeichnet und in der „seriösen“ Musik wird meist in Text oder zumindest in Interpretation mit Understatement, Reflektion, Distanz, Ironisierung die Schutzlosigkeit abgemildert. Vielleicht weil es sonst peinlich wäre. Wann hat es in der deutschen populären Musik zuletzt mal etwas gegeben, das mit der Heillosigkeit und Intensität von Schubert’s Winterreise mithalten kann (nicht kompositorisch, sondern nur die Aussage betreffend) – ohne dass wir gleich im Dark Wave oder anderen Spartenmusiken landen? Matthias Reim’s „Verdammt ich lieb Dich“??
Wenn Gwildis Soul singt, dann geht es letztlich um Soul, der eine gute Zeit vermitteln will, nicht darum, dass Gwildis auf der Bühne wirklich die Songs durchleiden wollte. Im Pop, aber auch im Chanson wird doch letzlich auch zumeist nur ein sonniges Milchkaffee-Leiden am Verflossenen zelebriert, eine Prise Melancholie. Es geht nie ums Ganze. Im klassischen US-Country geht es hingegen oft genug um alles, um Betrug, ums Verlassen, um Abschied, ums Nicht-geliebt-werden, um Einsamkeit, Eifersucht, um Knast, um verlorene Jobs und Freunde, um Süchte, ums Totsaufen und Totschießen. Und wenn man sich die Lebensläufe von Leuten wie Hank Williams, Cash, Haggard, Kristofferson oder Jones anschaut, dann meinen sie es auch so. Diese Radikalität findet sich in der deutschen Populärmusik nicht, daher wird sich eine deutsche Counry-Musik jenseits von mehr oder weniger gelungenen Singer/Songwriter-Adaptionen nicht finden lassen. Und selbst wenn Achim Reichel sänge, er habe einen Mann in Rendsburg erschossen oder die Erinnerung würde ihn töten, wenn ihr nicht der Schnaps zuvorkäme – wer würde das glauben? Und, was passiert eigentlich, wenn man eine Platte von Blumfeld, Tocotronic oder Wir sind Helden rückwärts spielt?
Einschränkend sei gesagt, dass ich mir solche Momente der unverstellen, ungekünstelten Emotionalität wiederum am besten im Bereich regional verankerter Musiker vorstellen kann, etwa bem frühen Wolfgang Ambros, bei Goisern und auch übrigens beim frühen Fendrich. Das sind dann aber doch die großen Ausnahmen, wenn ich mich nicht täusche, oder?
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