Re: Adaption fremder Musikstile oder: "Können Deutsche auch Country"?

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nail75

Registriert seit: 16.10.2006

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Hat and beardnail, Deine Darstellungen zum europäischen Jazz fußen auf einem Jazz-Verständnis, das wesentlich weiter gefasst ist als das, welches atom, kramer und auch ich teilen; habe mich mit beiden sehr ausführlich darüber ausgetauscht. Ich habe es mal anderswo geschrieben, ob das atom und kramer in dieser Schärfe so teilen würden, weiß ich nicht: Im Jazz ist nach Tranes Tod nichts von Bedeutung mehr passiert. Mein bzw. unser Bild vom Jazz ist sicher so eng, dass man es als dogmatisch bezeichnen mag.
Hier allerdings zu unterstellen, dass atom bzw. kramer sich „Thesen“ gezielt so zurechtlegen, dass man europäische Musik generell ausschließen kann, halte ich für gewagt und falsch. Vielmehr wird es wohl so sein, dass sich natürlich auch mit dem beschäftigt wurde, was als europäischer Jazz bezeichnet wird. Daraufhin wurden dann Schlüsse gezogen, eine Entwicklung erkannt und unüberbrückbare Gegensätze und Widersprüche festgestellt.

Ich will nochmal bekräftigen: amerikanische Musiker haben auch in Europa gute Aufnahmen mit hiesigen Musikern gemacht. Aber nichts davon hat die Qualitäten ihrer besten amerikanischen Aufnahmen. Und dass Powell auch in den USA schlechte Aufnahmen gemacht hat, tut dabei nichts zur Sache. Und die Gründe für Powells, Gordons etc. Exilsuche dürften wie schon gesagt kaum musikalischer Natur gewesen sein.
Okay, es gibt europäische Jazzer, die ein gewisses Niveau erreicht haben, Michelot und Orsted-Pedersen etwa, um bei von Dir genannten zu bleiben. Aber sie sind bestenfalls als Fußnoten zu bezeichnen. Und die „Weiterentwicklungen“, speziell die nur europäischen, die hier stattfanden, führen eben teilweise so weit, dass Jazz dafür keine Bezeichnung mehr ist. Da ist meines Erachtens der Bruch zwischen etwa dem späten Trane und europäischem sogenanntem Free Jazz viel größer als der zwischen Jelly Roll Morton und Ayler.

Wie gesagt, hier treffen Auffassungen aufeinander, die unterschiedlicher kaum sein können.

Das ist wohl wahr. Der Reihe nach:

„Belonging“ von Keith Jarrett gehört zu den zentralen Werken in seinem ausladenden Kanon und ist in Europa mit europäischen Musikern entstanden. Gleiches gilt für Coleman Hawkins, der einige seiner besten und wichtigsten Aufnahmen in Europa in den 1930ern mit europäischen Musikern gemacht hat. Es gibt – wie gesagt- zahlreiche weitere Beispiele wie Dexter Gordon. Deine These kann somit – meiner Ansicht nach – als widerlegt gelten.

Die Tendenz, sich Definitionen so zurechtzulegen, dass sie die eigene Argumentation unterstützen, ist bei Euch leider weitverbreitet. Außer Euch ist jedoch kaum jemand (schwarze Rassisten bilden eine bedauerliche Ausnahme) auf die Idee gekommen, zu behaupten, europäische Jazzmusiker machten keinen Jazz. Was muss Miles Davis sich nur gedacht haben, als er John McLaughlin nach Amerika holte? Ach so, das ist ja bereits kein Jazz mehr. Kein Wunder, dass Miles Davis Weiße so sehr verachtet hat.

Natürlich kann ich Jazz so definieren, dass er per definitionem nur in Amerika entstehen kann. Dann muss ich jedoch auch die entsprechenden europäischen Werke amerikanischer Künstler aus den Discographien streichen, ihnen jeden Wert absprechen, die Zusammenarbeit von Musikern über kulturelle Grenzen hinweg beklagen oder kritisieren und mich auch ansonsten als verbohrten Ideologen präsentieren, der Tatsachen ignoriert, weil sie sein Weltbild zu beschädigen drohen.

Niemand, der sich ernsthaft mit Jazz beschäftigt hat, kann glauben, dass nach Coltranes Tod nichts mehr „Ernsthaftes“ im Jazz passiert sei. Diese Meinung kann nur – und das gibst Du ja auch zu – ein Dogma sein. Damit würde man ja auch allen amerikanischen Jazz der 1970er bis zur Gegenwart in völliger Verkennung der Realität herabsetzen.

Vielleicht hat jemand von Euch mal ein Album europäischer Jazzmusiker gehört und es für schlecht befunden. Für wahrscheinlicher halte ich, dass Ihr WDs diesbezügliche Meinung relativ unkritisch übernommen habt oder in Analogie seiner bekannten Auffassungen zu deutscher Popmusik eine entsprechende Meinung gebildet habt. Das ist sowieso ein Jammer: Ihr seid alle intelligente Menschen und doch decken sich Eure Meinungen (mit sehr wenigen Ausnahmen) mit denen von WD fast vollständig. Ich habe nun auch sehr viele Freunde, mit denen ich mich über Musik austausche, beileibe nicht nur im Forum und wir haben oft gänzlich unterschiedliche Meinungen über bestimmte Künstler, Alben und Entwicklungen. Leider ist WD ein Mensch, der eine sehr ideologisch aufgeladene Meinung von Musik hat. Das ist sehr bedauerlich. Umso unnötiger ist es, sie einfach nachzubeten. Oder ist es etwa ein Zufall, dass Eure Meinungen grundlegend deckungsgleich sind?
(Otis will ich damit nicht angesprochen haben, nur um das klarzustellen).

@atom: Ich finde eine interessante Diskussion rechtfertigt das Ignorieren von Thread-Überschriften! :angel:

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Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum.