Re: Peter Gabriel – UP

#581275  | PERMALINK

mitchryder

Registriert seit: 08.07.2002

Beiträge: 25,961

Einen deutschen Kommentar zur Up von Jürgen Schleinitz:

Kaum hatte sich Peter Gabriel nach dem letzten Gig der Secret-World-Tour, dem Woodstock Festival 1994, ins heimische Studio zurückgezogen, richteten sich die Augen der Fans in aller Welt kontinuierlich nach Box. Die Frage, die heute wahrscheinlich den meisten von uns auf den Lippen brennt, lautet : „Mein Gott – acht lange Jahre! – War es das Warten wert?“ – Oh ja, das war es, und es wäre sogar noch eine viel längere Wartezeit wert gewesen: Peter Gabriel hat mit UP ein Meisterwerk abgeliefert!

Kennt Ihr dieses Gefühl, wenn ein Album trotz der Variationen in den Songs irgendwie eine Einheit bildet, eine eigene Welt? PETER GABRIEL 4 war so ein Album, SO ebenfalls, US hatte dieses Flair, und in UP taucht man wieder ein in eine ganz eigene Welt, aus der man mit dem atemberaubenden Crescendo von Signal To Noise und dem eher als Nachsatz gedachten The Drop entlassen wird, atemlos, und ganz schwindlig von der „Reise“ . . .

Wie sieht diese Welt aus? Einige würden sagen „düster“, doch wo es Schatten gibt, gibt es auch Licht, ganz so wie in der Chiaroscuro-Malerei, die von den Hell-Dunkel-Kontrasten lebt. Nein, UP ist zwar introspektiv, aber durchaus auch energiegeladen. Das Verdienst von Peter Gabriel ist es gerade, dass er es schafft, selbst die leisen, melancholischen Songs in einer positiven Note enden zu lassen. Und so ist der Titel UP vielleicht gar nicht so unpassend, wie man zunächst meinen möchte: Es gibt durchaus so einige „uptempo“ (schnellere, lautere) Songs, und als „uplifting“ (positiv, fröhlich) entpuppt sich so manches Lied, dem man das am Anfang überhaupt nicht zugetraut hätte.

Worum geht es? Peter Gabriel hat mittlerweile seine Lebensmitte überschritten und ist zudem gerade erneut Vater geworden, und naturgemäß kommt man da ins Nachdenken über das Leben, die Geburt, den Tod, alles was jenseits unserer eng begrenzten Erfahrenswelt liegt, über Urängste, über unseren Platz im Universum und unser Bestreben, unseren Weg zu finden. – Das klingt hochgestochen und langweilig? – Abwarten! Peter Gabriel ist eben kein Hochschuldozent im Philosophie-Diskurs, sondern durchaus in der Lage, diese Gefühlswelten durch die Poesie in seinen Lyrics, die verwendeten ungewöhnlichen Bilder und generellen Erfindungsreichtum in der Musik zu vermitteln. Man könnte sagen, die Saiten, die er anschlägt, klingen im Hörer noch lange nach.

„Ausreisser“ aus dem Generalthema: Während My Head Sounds Like That nur teilweise den oben erwähnten Themenkomplex streift – denn dort geht es um unsere Sinne und wie unsere Innenwelt und die Erfüllung in unserem Leben die Sinne beeinflusst – gibt es jedoch einen Song, der so überhaupt nicht mit dem Gesamtthema vereinbar zu sein scheint, es sei denn, man argumentiert, dass Barry Williams Show, übrigens genauso wie Signal To Noise, um unser Mitgefühl und damit um unsere „Positionierung“ unseren Mitmenschen gegenüber kreist – auf jeden Fall jedoch ist die erste Singleauskopplung Barry Williams Show so fies, dass man´s schon wieder gut findet.

Àpropos Singles und deren Themen: Hatte US noch einen Sledgehammer-Klon aufzuweisen, so sind es diesmal andere Themen, die die Single-Qualitäten ausmachen. – Oh, nicht dass Ihr mich falsch versteht: Sex kommt durchaus vor, aber in sehr ungewöhnlichen Inkarnationen!

Was ist neu? Bis auf zwei kleine Ausnahmen agiert Peter Gabriel das allererste Mal in seiner Karriere als sein eigener Produzent. Nun ja, um ehrlich zu sein, hätte wohl auch kein Producer eine achtjährige Arbeit an einem Projekt mitgemacht. Studio-Techniker Dickie Chappell sagte 1996 : „Wir HABEN einen Producer! Es ist nur ein bisschen anders. [Peter] macht sich ganz gut, und es gibt ihm momentan mehr Flexibilität.“ Nur für die allerletzte Phase des Abmischens wurde Tchad Blake hinzugerufen und das Abmischen von I Grieve geschah unter Beteiligung von Stephen Hague als Produzent.

Neu und kennzeichnend für den neuen Stil von UP ist außerdem noch, dass Peter viel „mit der Gitarre herumgespielt hat“. Er spielt sie zwar nicht in konventioneller Weise, aber er manipuliert und sampelt die Sounds, die er aus ihr herauslockt. Einige Songs auf UP (zum Beispiel More Than This) sind sogar auf diese Art und Weise auf der Gitarre geschrieben worden.

Erste Erfahrungen mit dem Einsatz von Streichinstrumenten – hauptsächlich von Geigen – und deren Arrangement hat Peter Gabriel zwar schon auf OVO gesammelt, neu ist allerdings, dass er dieses Mal überwiegend allein für die gesamten Streicherarrangements, insbesondere die für Signal To Noise, verantwortlich war. Einige wenige Wochen standen ihm dabei noch Will Gregory und später Nick Ingman zur Seite, ansonsten war er dabei völlig auf sich allein gestellt.

Und neu auf diesem Album und ebenso hörbar ist außerdem noch, dass er sich im Zuge der Arbeiten für UP von seiner damaligen Studiotechnikerin [und heutigen Ehefrau – aber das ist eine andere Geschichte . . .] Meabh Flynn eine Sammlung von Percussion-Samples hat anlegen lassen, die es ihm ermöglichte, direkt von seinem Keyboard aus neue Grooves aus diesen perkussiven Elementen zu spielen. Außerdem wollte Peter, der „verhinderte Drummer“, der er nun mal ist, bei diesem Album den Percussions und den Drums besonders viel Raum geben, und deshalb finden sich neben ihm selbst (mal abgesehen von den Samples hat er diesmal sogar einige Tom-Toms gespielt!) ungewöhnlich viele Schlagzeuger und Perkussionisten auf dem Album. Diese Vielzahl von Perkussionselementen und Schlagzeugformen hört man denn auch heraus, teilweise sind sie herkömmlich eingespielt, teilweise klingen sie sehr ungewöhnlich und sind keinem konventionellen Instrument zuzuordnen.

Und wie ist die Musik? – Im wahrsten Sinne des Wortes „VIELSCHICHTIG“: Peter Gabriel hat weiß Gott genügend Zeit gehabt, um an diesem Album zu werkeln, und so sind die einzelnen Stücke sehr „dicht“ : sowohl atmosphärisch als auch die Instrumentation betreffend. UP überzeugt durch eine Vielzahl von musikalischen Elementen. Einige davon führen uns zurück zu all dem, was wir an Peter Gabriels Musik der späten Siebziger und frühen Achtziger so liebten (ungewöhnliche Soundeffekte und Instrumente, starke Rhythmen, und – was die Themen angeht – ungewöhnliche Perspektiven und Charaktäre, Menschen in Extremsituationen, Exkursionen in Innenwelten), andere sind total neu und zeitgemäß („Clubsounds“ sozusagen). Peter Gabriel ist stilmäßig im neuen Jahrtausend angekommen und vieles hat man so bei ihm noch nie gehört. Doch wie immer ist es sein ganz eigener Mix, und noch hat man Schwierigkeiten, sich vorzustellen, wie einer von den UP-Songs in Gänze von den DJs in den Clubs gespielt wird. Doch manche (Growing Up zum Beispiel) sind sehr nahe dran, und es bedarf vielleicht nur eines ganz winzigen Remixes, um dieses zu vollbringen! War US stilmäßig noch sehr stark eine Mischung aus SO und PASSION, so ist der Einfluss der Weltmusikelemente bei UP stark zurückgeschraubt. Statt die Exotik von Weltmusikklängen zu nutzen, setzt Peter Gabriel eher auf innovative Nutzung selbst erfundener Klänge und Samples, sowie auf männliche Gospelchöre, Blechorchester, und im Einzelfall sogar auf den konzentrierten Einsatz von Streichern! Ebenso wie die perkussiven Elemente und Peters eigene Gitarrenparts sind dabei viele der sonstigen Sounds, die man in den Liedern hört, derart manipuliert und elektronisch verfremdet, dass man deren Ursprung nicht mehr eindeutig ausmachen kann. Generell kann man sagen, dass sowohl für die Musik als auch für die Vocals gilt: an jeder Ecke dieses Albums lauert eine Überraschung. Und dennoch strahlt das Ganze diese Art Einheit aus, wie ein roter Faden, der sich durch das ganze Album zieht.

Àpropos Vocals – Was ist mit Peter Gabriels Stimme? Zunächst mal ist sie sehr oft stark in den Vordergrund gemixt, was das Ganze sehr persönlich wirken lässt. Außerdem hat Peter Gabriel überraschenderweise seine Stimmparts nicht so stark „ausgebügelt“, wie man das von ihm kennt. Vieles ist frisch und rau geblieben, mit allen stimmlichen Unzulänglichkeiten, die eben manchmal auftreten. Aber gerade das macht das Ganze so menschlich-gefühlvoll. Diese in den leisen Parts doch manchmal sehr zerbrechlich wirkende Stimme ist an anderen Stellen wieder ungeahnt volltönend oder aggressiv-kraftvoll-röhrend, teilweise technisch „ins ultra-Dreckige verfremdet“, es gibt emotionale „Schreie“ oder lang ausgezogene Noten wie beim Ende von I Grieve, es gibt klagende Laute à la Mercy Street, es gibt traurig-schöne Blues-Lieder, es gibt verfremdete Parts (versucht mal, „knarzend“ beim Einatmen statt beim Ausatmen zu sprechen oder zu singen), die einen an Moribund The Burgermeister oder Kiss That Frog denken lassen, es gibt Teile, wo er mit sich selber Harmonie oder zwei verschiedene Textteile „gegeneinander“ singt, usw., usw.. – Kein Wunder, dass Peter damals bei OVO gezwungen war, gleich mehrere Vokalisten mit an Bord zu nehmen: in den unteren Registern klingt er wie Richie Havens, aber dieser wäre wohl zu den Oberstimmen und Lauten nicht fähig, die Peter hier auf UP bringt!

Was uns zum Thema Auf UP vertretenes Personal bringt (diese Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, da uns die Credits des Albums noch nicht vorlagen):

Peter Gabriel (Gesang, Keyboards, Klavier, „Gitarre“, Drums, Tom-Toms)
Daniel Lanois (Gitarre) [Sky Blue] Diese beiden Musiker sind vor allem auf den
Hossam Ramzy (Percussions) ältesten Teilen von UP zu finden
Nusrat Fateh Ali Khan (Gesang)
Melanie Gabriel (Gesang)
The Blind Boys Of Alabama (Gesang)
David Rhodes (Gitarre)
Peter Green (Gitarre) [Sky Blue]
The London Session Orchestra (Geigen, Violas, Cellos, Kontrabass)
The Black Dyke Mills Band (Blechinstrumente) [My Head Sounds Like That]
Tony Levin (Bass)
Danny Thompson (Kontrabass, Bass)
Ged Lynch (Percussions, Drums)
Mahut Dominique (Percussions)
Chris Hughes (Drums, Drum Loops)
Manu Katché (Drums)
Steve Gadd (Drums, Brushwork)
Dominic Greensmith (Drums, Tom-Toms)
Will White (Drums)
Babacar Faye (Djembes) [My Head Sounds Like That]
Assane Thiam (Talking Drum) [My Head Sounds Like That]

Themen, die sich durch das gesamte Album ziehen: Der Alternativtitel, den Peter Gabriel für dieses Album erwogen hatte, lautete I/O = Input / Output oder In & Out oder IO, der Jupitermond. Vielleicht wäre das im Nachhinein der passendere Titel gewesen, denn es geht um Innenwelten und unseren Platz in der Welt, es geht um Informationen, die unser Gehirn aufschnappt, ohne dass wir uns das rational erklären können, und ja, es geht sogar auch – um mit „Uhrwerk Orange“ zu sprechen – um „das alte Rein-Raus-Spiel“. . . – Und das Mondthema findet sich zwar direkt im Album nicht wieder, wurde aber von Peter Gabriel im Vorfeld stark genutzt, mit seinem Full Moon Club auf www.petergabriel.com und dem auf „Vollmond“ umgemünzten „theoretischen Veröffentlichungsdatum“ 21. September. Und MOND und WASSER [siehe unten] sollen ihren Widerschein auch in der für Ende 2002 / Anfang 2003 angesetzten Tournee finden, wenn auch Näheres dazu noch nicht bekannt gegeben wurde . . .

Das zweite Thema, das immer wieder auftaucht, ist das Element WASSER. Zu diesem Zeitpunkt ist noch nicht ganz klar, ob Peter Gabriel es schafft, seine ursprünglichen Pläne in die Tat umzusetzen, das fertige Album zu Musikern in Südamerika, Ägypten, Indien etc. zu schicken, die dann alle ihre eigenen Versionen des Albums anfertigen sollen – die entsprechenden Resultate würden dann „Up The Orinoco“, „Up The Nile“, „Up The Ganges“ usw. heissen. Auf jeden Fall jedoch taucht das Element Wasser in fast jedem Song auf, und ähnlich wie bei Here Comes The Flood oder Red Rain steht das Wasser auch hier teilweise für emotionale Fluten. Es heißt „I know how to drown in sky blue“ oder „but this display of emotion is all but drowning me“ – also geht es im übertragenen Sinne ums Ertrinken -, es geht um das Unbekannte in Meerestiefen, es geht um Fruchtwasser und andere Körperflüssigkeiten, es geht um Wolken, um Weinen, um das Geräusch von fallenden Wassertropfen, um Momente, die einem wie Wasser durch die Finger zerrinnen, um Visionen von Unglücken auf hoher See, – – – oder ein Bild von einem samt Plastikbeutel voller Wasser fallengelassenen Goldfisch steht für die Zerbrechlichkeit des Lebens . . .

Das Element Wasser findet sich auch auf dem Cover wieder (falls es denn so bleibt, wie auf der uns vorliegenden Promo vorhanden). Vorder- und Rückseite basieren auf Schwarzweißfotos und sind in einem eher grauen Farbton gehalten. Auf der Vorderseite erkennt man im Vordergrund fünf einzelne Wassertropfen im freien Fall, schräg (diagonal) über die Bildoberfläche verteilt, und darunter irgendwelche unscharfen Schemen. Erst bei längerer Beschäftigung mit dem Cover wird deutlich (kleiner Tipp: den eigenen Kopf nach rechts neigen oder die Scheibe diagonal nach links ankippen), dass die Schemen in Wirklichkeit ein unscharfer (weil nicht im Brennpunkt der Kamera befindlicher), extremer Close-Up von Peters Gesicht sind und sich in den Wassertropfen auch noch mal – verzerrt und auf den Kopf gestellt, aber wenigstens scharf / im Focus – das Gesicht Peter Gabriels widerspiegelt. Also alles wie gehabt: kein Peter-Gabriel-Album ohne sein (mehr oder minder unkenntlich gemachtes, verstecktes) Gesicht auf dem Cover! Die Rückseite ist leichter erkennbar, dort „regnen“ die vereinzelten Wassertropfen, die an Tränen erinnern, auf seine Handfläche mit allen ihren „Lebenslinien“ usw. . . .

– Für die Coverfotos zeichnete übrigens die Künstlerin Susan Derges verantwortlich, die ähnliche Werke bereits seit den frühen 90er Jahren herstellt. In dem Fall hat also nicht Peter das Konzept für das Cover total allein erarbeitet, sondern er ist auf die bereits vorliegenden Arbeiten der Künstlerin aufmerksam geworden, und hat sich gedacht, daß ein ebensolches Foto mit ihm als Motiv gut zu dem Themen Wasser und „Innen und Außen“ und zu seiner üblichen Praxis passen würde, sein Gesicht auf dem Plattencover zu verstecken . . . !

Vergleiche: Wenn man UP denn unbedingt mit früheren Werken vergleichen muß, so ist es von der vorherrschenden Atmosphäre her wohl am ehesten mit dem Lied Red Rain vergleichbar, der Stil ist eine Mischung aus allen bisherigen Studioalben Peter Gabriels mit der RED PLANET-Soundtrack-Version von The Tower That Ate People, und die Reise durch Innenwelten und Lebensabschnitte erinnert sogar an das epische THE LAMB LIES DOWN ON BROADWAY!

… es geht noch weiter… nachzulesen… auch unter dem oben angegebenen Internetlink…

Gruß

Mitch

--

Di. & Do. ab 20.00 Uhr, Sa. von 20.30 Uhr Infos unter: [/COLOR][/SIZE]http://www.radiostonefm.de