Re: Wer oder was definiert Soul?

#5736599  | PERMALINK

joliet-jake
7474505B

Registriert seit: 06.03.2005

Beiträge: 38,486

Ah Um / timmkaki: Umfassende, treffsichere und fundierte Beiträge.

Speziell:

Ah UmIm Kern ist Soul nach meinem Verständnis verweltlichte Gospel-Musik. Was man in den 50er-Jahren als „Rhythm & Blues“ bezeichnete, war im wesentlichen urbanisierter Blues und simplifizierter, deftiger Jazz. Jedenfalls war es weltliche Musik, und die Unterscheidung zur sactified music war im Bewusstsein der schwarzen Zuhörerschaft stets präsent.

Ja! Ray Charles hat Gospel-Elemente auf Unterhaltungsmusik übertragen. Das war um 1950 rum sein ganzer Trick. Exakt der Trick, der die schwarze Musik komplett neu definierte.

Ah UmDer Soul nun bediene sich ganz offensiv bei der Musik der schwarzen Südstaaten-Kirchen und stellte diese in einen weltlichen Pop-Kontext. Nicht zufällig kamen praktisch alle der Soul-Größen der 60er vom Gospel. Und ihren Gesangsstil haben sie dabei kaum verändern müssen. Im Wesentlichen wurde „Lord Jesus“ durch „Honey Baby“ ersetzt. Aretha Franklin singt auf „Amazing Grace“ nicht wirklich anders als auf „I Never Loved A Man…“

Wiederum korrekt: Im Umkehrschluß behaupte ich deswegen, daß die Wiege des Soul im Süden stand. Deswegen hatte Atlantic Records auch diesen zeitlichen Vorsprung: Atlantic wurde 1947 gegründet, 12 Jahre vor Tamla Records (1959, ab 1960 in Motown aufgegangen). Atlantic hatte ja auch nicht nur R&B im Programm (zu dieser Zeit war es einfach nur „R&B“ oder noch einfacher „race music“), sondern ebenso Jazz (Mingus, Coltrane).
Ich will hier absolut keine Wertung zwischen Labels abgeben, sondern einfach nur zeitliche Orientierung einbringen: als Motown (ich nenne es der Einfachheit halber jetzt so) startete, war Atlantic etabliert und deckte das Spektrum praktisch komplett ab. Als Motown startete, hatte z.B. Ray Charles seine Atlantic-Phase (1952-59) schon hinter sich! Eine Phase, die nicht nur für ihn, sondern auch für das Label und den Musikstil insgesamt außerordentlich produktiv, gewinnbringend und fortschrittlich war. Ungefähr zeitgleich mit der Gründung von Motown ging Atlantic die Vertriebsgemenschaft mit Stax ein, ein harter Brocken für ein upcoming Label!
Mit anderen Worten: Motown wurde in einer Zeit gegründet, als die Landschaft definiert schien, als wichtige Vertreter des Genres das Label und die Ausrichtung bereits wieder änderten. Eine Zeit, die von erheblichen Umwälzungen musikalischer und kommerzieller Art geprägt war. Daß die Ausrichtung von Motown dann nur anders werden konnte und musste, ist völlig klar. Sie hatten keinen Ray Charles, der ab jetzt für ABC Country Music machte, keine Aretha Franklin, keinen Wilson Pickett. Sie konnten aber auch nicht mehr R&B im alten Stil machen, bzw den daraus abgeleiteten „Soul“ in der bekannten Form – das war, soweit es noch ging, von Atlantic besetzt. Atlantic hatte 1955 Spark Records, das Label von Jerry Leiber und Mike Stoller gekauft, und damit eine weitere Ecke besetzt. Man musste einfach neue Wegen gehen, um sich abzusetzen und Erfolg zu haben.

Ah UmJe weniger von diesem churchy feel vorhanden ist, desto weniger würde ich von Soul sprechen.

Mit eben diesem churchy feel (ein schönes Wort!) durfte Motown nicht mal versuchen zu punkten. Diese Zeit war vorbei.
Das erklärt vielleicht (Kurzfassung ;-) ), warum die beiden Labels so unterschiedlich sind. Es ist nicht nur eine Frage der Philosophie oder des A&R – es ist schlicht eine Frage der Ära.
Und damit verbietet sich jede Wertung nach identischen Kriterien.

timmkakis erste drei Absätze gehen in die Richtung, die ich versuche darzustellen.

Um hier dem Eindruck entgegenzutreten, ich würde Motown und die dahinterstehenden Interpreten nicht als wertvolle/gleichberechtigte Richtung anerkennen: Atlantic ist Atlantic, Motown ist Motown. Beide haben ihren Stil, ihre A&R-Philosophie, und somit ihre Berechtigung!
Die beiden sind aber einfach zu verschieden, um für sich alles abzudecken. Das ist aus meiner Sicht der Grund, warum sie so polarisieren. Wir haben hier nichts anderes als die Diskussion „BMW oder Mercedes?“, „Kraft oder Chrom?“, „Sportcoupé oder Cabrio?“ – und natürlich die Schnittmengen, die es nicht einfacher, aber interessanter machen.

Aber eins ist für mich klar: Die Wurzeln des R&B, ebenso die Erweiterung zum Soul liegen bei Atlantic, einfach aufgrund des oben beschriebenen zeitlichen Vorsprungs. 12 Jahre waren auch damals eine lange Zeit! Einen Motown-Interpreten aus den frühen 60ern mit einem Atlantic-Interpreten aus den frühen 50ern zu vergleichen kann schnell schiefgehen. Das hieße Beatles und Stones mit Pink Floyd und Led Zeppelin zu vergleichen. Wollen wir das? Wir können nur sagen, „mir liegen die Beatles mehr als Pink Floyd, und die Stones mehr als Led Zep.“ Oder eben umgekehrt.

--

Radio StoneFM | "Solos come and go. Riffs last forever." (Keith Richards) | The fact that there's a highway to hell but only a stairway to heaven says a lot about anticipated traffic numbers.