Re: Lisa Gerrard – Hamburg, 22.04.2007

#5686407  | PERMALINK

masureneagle

Registriert seit: 05.11.2004

Beiträge: 1,562

Der Film im Kopf

Das Stuttgarter Konzert der Sängerin Lisa Gerrard

Manche Dinge mag man sich vielleicht vorstellen können, man mag sie aber eigentlich gar nicht sehen. Die stundenlange Maskenbildnerarbeit etwa, die hinter Lisa Gerrard liegen musste, ehe das aktuelle Tourplakat fertig gestellt und die Fotos für das neue Album „The Silver Tree“ geschossen werden konnten. Lisa Gerrard sieht – was ja weiß Gott keine Schande ist – am Donnerstagabend im bestens gefüllten großen Saal des Theaterhauses eben nicht wie jene Mittzwanzigerin aus, zu der sie für die Promotionfotos zurechtgestattet worden ist. Man merkt der 46-Jährigen an vielen Kleinigkeiten die Lebensreife an: an ihrem kontrolliert wirkenden Antlitz, an der distinguierten, fast schon distanziert wirkenden Erscheinungsform, die sie mit ihrem cremefarbenen Abendkleid mit langer Schleppe unterstreicht. Und an der divenhaften Gestik mit den huldvollen Armbewegungen, die kühl, fast abweisend wirkt.
Bisweilen wirkt Lisa Gerrard auch ein wenig jenseitig. Dies gipfelt in einer etwas anstrengenden Einlage in der ersten Zugabe, als die ansonsten sehr wortkarge Sängerin sich mit einer sehr esoterischen Ansprache an das Publikum wendet: Man könne, so man denn wolle, beim kommenden Lied die Hände zum Gebet falten und sich das Leid der Welt in Erinnerung rufen nebst der vom Tod bedrohten Bienen, die doch irgendwie das Alpha und das Omega unserer Nahrungskette verkörperten.

Ungern möchte man auch sehen, wie ein junger Laptopbediener bei einem musikalisch so eindringlich reduzierten Konzert fast schon mitswingt, als wäre er der Einheiz-DJ bei einem Roots-Reggae-Festival. Dass dieser Mann schließlich bei der obligatorischen Bandvorstellung auch noch als „Perkussionist“ vorgestellt wird, das verbuchen wir einfach mal als so lässliche Sünde. Wie auch den Umstand, dass man sich bei diesem Konzert dringend einen Liveperkussionisten gewünscht hätte und dass bei einem derart auf Vokalqualitäten zugeschnittenen Auftritt vom Laptop eingespielte Backing-Chorvocals wirklich deplatziert wirken.

Aber schon soll Schluss sein mit der Motzerei, denn mit allem versöhnt dann doch eines: Lisa Gerrards wirklich umwerfend gute, allumfassende Gesangsstimme. Durch drei Oktaven changiert sie mühelos, mit einem fabelhaften Vibrato agiert sie, sowohl in ätherischer Leichtigkeit wie auch in tiefer Inbrunst. Und in einer glasklaren, atemraubenden, so bei Livekonzerten selten gehörten Tonqualität. Völlig verblüffend ist zudem, wie Lisa Gerrard dieses außerordentliche Gesangsniveau fast ohne Pausen zwei Stunden lang auf höchstem Niveau halten kann und so im Theaterhaus beweist, dass sie zu den Ausnahmekönnerinnen unter den Popsängerinnen zählt.

Schön geraten ihr und den Begleitern (neben dem „Perkussionisten“ ein Pianist und ein Keyboarder) die Stücke aus den Filmmusiken, die sie bekanntgemacht haben. Den richtigen Film im Kopf imaginiert man aber bei den älteren Songs ihrer einstigen Band Dead can Dance. Mit ihr hat Lisa Gerrard in den achtziger und neunziger Jahren so etwas wie einen Ethno-Gothic-Sound kreiert, und wenn sie in ihrem sphärischen Gesang in fremd klingende Sprachen wie das Gälische wechselt, wenn die Musik nicht nach breitem Motion-Picture-Soundtrack klingt, sondern ein zart gebrochener, schwebend leichter Indie-Beat ist – dann klingt das einfach grandios.

Ihre wahre Kraft entfalten diese Songs bei diesem feinen Konzert im Theaterhaus übrigens am besten, wenn man einfach nur die Augen schließt. Manche Dinge muss man einfach nicht sehen.

Stuttgarter Zeitung 17. November 2007 von Jan Ulrich Welke

--