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Beim ersten Hören habe ich gedacht: Das wird ein Lieblingsalbum, und nach dem dritten Hören (ich bin spät dran, ich weiß) denke ich dasselbe: Das ist ein Lieblingsalbum! Die rundum gelungene Umsetzung einer Haltung in Text und Musik: die des melancholisch revoltierenden Dandy. Das Scheitern in Schönheit und die Verweigerung des Mitmachens haben Tocotronic früher schon besungen, aber selten so schön wie hier. Sie steht ihnen immer besser, diese Pose.
„Mein Ruin“ ist gleich ein grandioser Opener, dialektisch aufgebaut („Ich bin nicht einer von euch / ich bin nur einer von euch / ich bin einer unter euch“) und mit guten Zeilen („Nur aus Kälte und Distanz verleih ich mir den Lorbeerkranz“, hihi). Die Gitarren klingen super. (Eine Textanalyse gibt’s weiter oben im Thread, von Sonic Juice.) Und dann wird es noch besser: mit „Kapitulation“, dem Titelstück, der Single des Jahres. Ein großartiger Beat (das ist schon die halbe Miete) und dazu Musik und Lyrics wie eine stimmungsaufhellende Droge. Auch wunderbar gesungen.
„Aus meiner Festung“ ist ein gutes witziges Lied. Beim ersten Hören habe ich das irgendwie nicht kapiert, da kam es mir bloß seltsam vor. „Verschwör dich gegen dich“ ist einfach perfekter Pop; die instrumentale Koda hinreißend schön. Und wenn Dirk vom Rosenblatt singt, das man unter mein Bett gelegt hat, was kann ich da anderes sagen als „hach“? Auch „Imitationen“ ist Gitarrenpop wie er sein soll, berührend, lässig, angenehm gesungen, mit schöner Melodie.
Als Schwachpunkt des Albums empfinde ich „Wir sind viele“. „Wir sind viele / Jeder einzelne von uns“ ist zwar eine großartige Eröffnung, aber der Song hält dieses Versprechen nicht, obgleich er zum Ende hin nochmal gut wird. Vielleicht ist er nicht straff genug. Zum Glück folgt danach ein Höhepunkt.
Mein Lieblingstrack auf Pure Vernunft… war „Ich habe Stimmen gehört“; mit „Harmonie ist eine Strategie“ haben Tocotronic dieses Stück jetzt übertroffen. Die Stimme, mit der Dirk seine Strophen vorträgt, ist unglaublich sexy; und wenn er mir dann die Titelzeile ins Ohr singt… aah, das Gefühl ist unbeschreiblich. Wunderbar auch, wie der Track gemessen voranschreitet und immer grandioser wird. Für ein solches Stück glaube ich sogar vorübergehend an Himmel und Hölle; es dauert ja nicht lang. Musik und Worte sind perfekt in Einklang; unfassbar großartig. Ich nenne das Goth, jawohl, aber es ist das gute Zeug, weit weg vom Zillo-Magazin.
„Wehrlos“ ist anrührend, zart, von stiller Größe, einfach schön. Die Backing Vocals hätte ich mir anders gewünscht, aber dann wäre der Track zu schön um wahr zu sein. Bei „Dein geheimer Name“ gefällt mir vor allem das Gitarrenspiel – schön stimmungsvoll. Der Track hat das gewisse Etwas, das ich gerade nicht benennen kann. „Sag alles ab“ ist perfekter Punk, kommt auf den Punkt, reißt mich mit.
Nach diesem Ausbruch wird am Ende alles nochmal ordentlich verschnürt, wie es sich gehört: „Ja, ich habe heute nichts gemacht… ICH ATME NUR“ (so wie Dirk das singt, klingt es sehr angenehm). Und dann mit verschwenderischer Geste in die Luft gejagt: „Alles gehört Dir / Eine Welt aus Papier / Alles explodiert / Kein Wille triumphiert“. Es ist Kunst.
Wenn mir das Album nach dem fünften oder sechsten Hören noch genauso gut gefällt wie jetzt nach dem dritten, gibt’s die Höchstwertung.
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To Hell with Poverty