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JAN MÜLLER
Im „Stern“ kann man etwa zum 100. Geburtstag von Leni Riefenstahl lesen, es sei große Kunst gewesen. Dabei ist und bleibt es Kitsch und Dreck. Das ist typisch für dieses Land. Deshalb wird auch so etwas Hochstapelndes wie unser Manifest so wahnsinnig ernst genommen.
DIRK VON LOWTZOW
Amüsant, wie einem die Leute in die Falle gehen.
VANITY FAIR sprach mit der Band über Patriotismus, Künstlertum und ihr neues Album „Kapitulation“
von Henning Kober
Vom Himmel scheint die Sonne auf den Berliner Friedrichshain. Aus einem Ghettoblaster singt Michael Jackson „Heal the World“, gleich darauf Falco „Helden von heute“. Besser kann ein Tag kaum beginnen. Dirk von Lowtzow, Sänger, Texter und Kopf der deutschen Band Tocotronic, sitzt im Café Schönbrunn. Er trägt weiße Jeans und ein weißes T-Shirt, auf dem Blumen blühen und rote Schrift vom „Zauber der Natur“ schwärmt.
In ihrer Frühzeit, Anfang der 90er-Jahre, sangen Tocotronic schöne Slogan-Songs: „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“ oder „Let There Be Rock“. Dann wurden Texte und Musik intensiver, durchdachter und die Band zum Inbegriff der Hamburger Schule. Die Idee: Popmusik soll so toll dialektisch sein wie Adorno, Horkheimer oder Habermas. Popmusik als Philosophiekurs, die Konzerthalle als Hörsaal. Tocotronics Grundhaltung dabei war immer: Wir sind dagegen! „Wir sind stramm links sozialisiert“, sagt Dirk von Lowtzow.
Nächste Woche erscheint das achte Album von Tocotronic. „Kapitulation“ haben sie es genannt. Seit Ende April geistert ein von der Band verfasstes Manifest durch das Internet. Darin schreiben sie: „Kapitulation – die absolute Niederlage, die endgültige Unterwerfung, die totale Hingabe. Dadurch werden wir so stark lieben können und so stark geliebt werden, dass wir die Imitationen des jeweils anderen werden. Alles, was einmal unser war, wird von uns abfallen, aber auch alle Sorgen, alle Qualen.“
VANITY FAIR
Wieso verbinden Sie etwas Schönes mit dem Begriff „Kapitulation“?
DIRK VON LOWTZOW
Es ging natürlich darum, einen negativ kodierten Begriff ins Positive zu wenden. Durch den historischen Subtext ist er als Provokation gedacht. Unter anderem gegenüber Leuten, die einen Optimierungsimperativ ausrufen und einzig die Gesetze des Erfolges postulieren. Gegen dieses neue deutsche Selbstbewusstsein, gegen den Patriotismus, gegen die Anforderung innerhalb dieser Gesellschaftskonstellation. Gegen dieses: „Mach was aus dir, hab Erfolg!“ Wir hingegen interessieren uns eher für Schwäche.
JAN MÜLLER
Zu sagen, Kapitulation wäre für uns ein rein positiv besetzter Begriff, wäre mir zu kokett. Dann wäre der Begriff auch nicht interessant, wenn man schon ein ganz reines, eindeutiges Verhältnis dazu hat.
DIRK VON LOWTZOW
Wir finden es grundsätzlich besser, Dinge zu verkomplizieren, als sie zu simplifizieren. Darin liegt für uns Schönheit. Das ist ein Aspekt. Der Klang ein anderer. Ka-pi-tu-la-ti-on ist ein sehr schönes Wort.
VANITY FAIR
Ich würde gern mit Ihnen über Patriotismus sprechen. Wie lässt sich Optimismus von Nationalismus abgrenzen?
DIRK VON LOWTZOW
Nationalismus spielt sich auf einer politischen Ebene ab und ist eine gefährliche Tendenz innerhalb einer Gesellschaft. Das ist auf jeden Fall zu bekämpfen. Positivismus oder Optimismus ist lediglich ein Gefühl, ein Zeitgeist, der damit einhergeht und den man anprangern kann. Das kann man schon trennen.VANITY FAIR
Wie ist in diesem Sinn die Fußballweltmeisterschaft vom vergangenen Jahr einzuordnen?
JAN MÜLLER
Es wird immer wieder behauptet, die Menschen in diesem Land hätten bis dahin ein verkrampftes Verhältnis zu ihrer Nation gehabt. Da würden wir schon widersprechen. Wir fanden das kritische Verhältnis von Teilen der Bevölkerung in Nachkriegsdeutschland zu dem ganzen Komplex nicht schlecht. Es war das Resultat der deutschen Geschichte, dass man mit Begriffen wie Nation und Patriotismus viel vorsichtiger war. Mir persönlich hat das immer sehr gut gefallen. Die Re-Nationalisierung begann nicht mit der Fußball-WM, sondern mit der Wiedervereinigung – und damit eine große Gehirnwäsche, die den Menschen einzureden versucht, sie brauchten jetzt wieder einen gesunden Patriotismus. Ich brauche den nicht. Ich wünsche mir eine emanzipiertere Haltung.DIRK VON LOWTZOW
Dem liegt die komische Annahme zugrunde, das deutsche Volk wäre im Gegensatz zu anderen immer vor Scham gebeugt, völlig unselbstständig, quasi neurotisch durchs Leben gegangen. Ich finde, es würde nicht schaden, wenn man sich 60 Jahre nach Ende des Dritten Reiches noch mehr schämen würde. Die Fußballweltmeisterschaft ist in diesem Zusammenhang harmlos.
VANITY FAIR
Sie sind in der Bundesrepublik der 80er-Jahre aufgewachsen. Wie wurde das Dritte Reich bei Ihnen in der Schule besprochen?
JAN MÜLLER
Man kann sich da relativ glücklich schätzen, dass wir in einer Zeit aufgewachsen sind, wo man darüber in der Schule viel erfahren hat.
DIRK VON LOWTZOW
Mir kam das aber nie als Zuviel vor. Auch habe ich dieses Thema nie wie Martin Walser als Moralkeule empfunden. Ich denke, Walsers Rede in der Paulskirche war motiviert von Sucht nach Anerkennung. Eitelkeit und Senilität spielten wohl auch eine Rolle. Wenn man solche Sätze ausspricht, kann man sich sicher sein, aus erschreckend vielen Teilen des Bürgertums Applaus zu bekommen.VANITY FAIR
Patriotismus ist ein komplexes Thema.
DIRK VON LOWTZOW
Es wird immer behauptet: Wir hätten hier eine junge Generation, die mit der Geschichte abschließen will, die alle natürlich keine Nazis sind und die ein ganz unverkrampftes Verhältnis zu Deutschland haben. Deshalb schreiben wir auf unsere Magazine „Kopf hoch, Deutschland“. Abgesehen davon, dass ich diese Haltung politisch ablehne, ist das eine subtile Verdummungsstrategie. Es geht immer nur um Gefühle, Emotionen, Befindlichkeiten. Dieser neue Nationalismus geht einher mit einer totalen Harmlosigkeit, einer totalen Kritiklosigkeit und einer antiintellektuellen Gegenbewegung. Alle die, die wie wir die Dinge kritisch hinterfragen, verkomplizieren, mit Bedeutungen spielen, werden als verkopft oder schwafelig hingestellt.
Vanity Fair
Wer sind denn Ihrer Meinung nach die Personen, die diese Entwicklung vorantreiben?
JAN MÜLLER
Es geht nicht nur um Einzelpersonen. Das ist breiter, das ist Teil der Bevölkerung. Mit wahnsinniger Aggressivität wird alles, was feiner und schöner ist, plattgemacht, vor allem in der Kunst. Im „Stern“ kann man etwa zum 100. Geburtstag von Leni Riefenstahl lesen, es sei große Kunst gewesen. Dabei ist und bleibt es Kitsch und Dreck. Das ist typisch für dieses Land. Deshalb wird auch so etwas Hochstapelndes wie unser Manifest so wahnsinnig ernst genommen.
DIRK VON LOWTZOW
Amüsant, wie einem die Leute in die Falle gehen.
Vanity Fair
Sie waren mit Bands wie Blumfeld oder Kolossale Jugend eine der ersten Bands, die angloamerikanischen Indiepop erfolgreich ins Deutsche übertrugen. Damit haben Sie auch Bands wie Mia, die heute ein unverkrampfteres Verhältnis zum eigenen Land propagieren, den Weg geebnet. Ist das nicht paradox?
DIRK VON LOWTZOW
Ich fände es narzisstisch, wenn man die Verantwortung für alles, was nach einem kam, übernehmen würde. Im Guten wie im Schlechten.Vanity Fair
Wie haben Sie die Kampagne „Du bist Deutschland“ empfunden?
DIRK VON LOWTZOW
Ästhetisch extrem arm, ganz fiese nationalistische Gefühle schürend.
JAN MÜLLER
Man wird sehr schnell in die Ecke gestellt als paranoider Spinner. Es geht ja nicht darum, dass wir Angst hätten, das Vierte Reich stehe vor der Türe.
DIRK VON LOWTZOW
Wobei die Kraft der Paranoia nicht zu unterschätzen ist.
JAN MÜLLER
Ja. Aber es geht darum, dass extrem lieb gewordene Sachen verschwinden. Sie gehen unter in diesem Meer aus Pathos und Gefühligkeit.
Vanity Fair
Die Auseinandersetzung um das G8-Treffen in Heiligendamm hat jüngst alle möglichen deutschen Musiker auf den Plan gerufen. Sie hielten sich da raus. Tocotronic neben Herbert Grönemeyer auf einem Protestkonzert: Das kann man sich auch schwer vorstellen.
DIRK VON LOWTZOW
Ich finde es gefährlich, wenn Musiker sich dazu hinreißen lassen, simple Statements abzugeben. Das produziert permanent Kitsch. Ich möchte nicht die Ziele der gesamten Anti-G8-Bewegung diskreditieren. Viele Ansichten sind ja breiter Konsens, der bis in die CDU hineingeht. Dass Grönemeyer dort auftritt, ist somit folgerichtig.
JAN MÜLLER
Mir geht das jetzt zu weit. Wir machen Songs, und im besten Fall sagen die etwas über Menschen aus und über das, was in ihnen vorgeht. Unser Job ist nicht Politik. Auch wenn das zehnmal politisch ist, was wir machen.
DIRK VON LOWTZOW
Wir sind Künstler und haben verdammt noch mal unkonkret zu sein. Unsere Aussagen sind in unseren Texten und Platten.
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Look out kid You're gonna get hit