Re: Violine im Jazz

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Dass Billy Bang am 11. April viel zu jung nach einem langen Kampf an Lungenkrebs gestorben ist, habe ich schon gemeldet. Für ein wenig Aufsehen sorgte er mit seinem Album „Vietnam – The Aftermath“, das 2001 bei JustinTime erschienen ist. Bang verarbeitet darauf seine traumatischen Erfahrungen im Vietnamkrieg musikalisch verarbeitete (an seiner Seite auch die Veteranen Ted Daniel, Frank Lowe, Ron Brown, Michael Carvin, Butch Morris, sowie zudem Sonny Fortune, John Hicks und Curtis Lundy).
Damit schien bei Bang ein Damm gebrochen. Bang wurde 1966 eingezogen, diente u.a. während der Tet-Offensive als Infanterist an der Front.

Bang wurde am 20. September 1947 in Mobile, Alabama, geboren. Als Schüler lernte er, Violine, Schlagzeug und Flöte zu spielen, verliess dann die Schule ohne Abschluss und wurde nach Vietnam eingzogen.
Nach seiner Rückkehr wurde er von traumatischen Erinnerungen und Albträumen geplagt:

For decades, I’ve lived constantly with my unwillingness to deliberately conjure up the pain of these experiences. At night, I would experience severe nightmares of death and destruction, and during the day, I lived a kind of undefined ambiguous daydream. By allowing these awkward and unfathomable feelings to lie dormant in some deep dark place, I was able to tolerate my frankly vegetative way of living. It was preferable somehow – and safer – to let these monstrous thoughts imbedded in my unconscious to remain in that state – inactive.

~ Billy Bang, Liner Notes zu „Vietnam – The Aftermath“, Justin Time JUST-165-2, CD, 2001

Bang suchte Zuflucht in Alkohol und Drogen, geriet in radikale Gesellschaft, verhalf Aktivisten zu Waffen und teilte sein Wissen aus Vietnam:

Bang made it back from Vietnam only to find racial turbulence at home. „It looked like the Bronx had a war up there! There were burned-out buildings. There were riots or something.“ Bang turned to drugs and got caught up in a group of militants, where he put his knowledge of weapons to work helping to buy guns. It was on one gun-buying trip, in a Baltimore pawnshop, that he heard a sound calling him to a back room. „I don’t know if it was on the radio or in my head, but I heard it. I walked back there and there were these old, used violins hanging up on a rope.“

He bought one for $25, left the militants and began to play. He eventually studied with jazz violist Leroy Jenkins and got involved in the emerging New York loft scene. Although he was initially known for his work on the avant-garde scene, his music became increasingly accessible. His latest album, „Prayer for Peace,“ featured an irresistible version of the Cuban song „Chan Chan“ that got substantial airplay on jazz stations.

~ Ron Netsky: „OBIT: Jazz violinist Billy Bang dead at 63“, in: Rochester City Newspaper, 12. April 2011 / http://www.rochestercitynewspaper.com/music/articles/2011/04/OBIT-Jazz-violinist-Billy-Bang-dead-at-63/

Über die Musik – Coltrane und Ornettes Musik und die Musik, die sie losgetreten hatten – fand er gewissermassen zurück ins Leben. 1977 gründete er mit dem Gitarristen James Emery und dem Kontrabassisten John Lindberg das „String Trio of New York“, eine Gruppe, die lange Zeit Bestand hatte und Free Jazz mit kammermusikalischen Einflüssen verband.

Über die Jahre spielte Bang auch mit Kip Hanrahan, Bill Laswell und während der 80er und 90er Jahre mit dem Sun Ra Arkestra.

Das Album Outline No. 12 wurde 1982 mit einem Ensemble eingespielt, das von Butch Morris dirigiert wurde. In der Gruppe findet sich mit Frank Lowe einer von Bangs getreuesten Kollegen – er spielt hier ausschliesslich Sopransax. Jason Hwang und Joseph Hailes sind ebenfalls an der Violine zu hören, Wilber Morris am Bass, Sunny Murray und John „Khuwana“ Fuller an Perkussionsinstrumenten, Khan Jamal am Vibraphon, sowie ein Klarinettentrio aus Charles Tyler (B flat), Henri Warner (Altklarinette) und David Murray (Bassklarinette). Die Musik wechselt zwischen dichten, komponierten Ensemblepassagen und freieren Passagen, zwischen Soli und orchestralen Ensembles.

‚Outline No. 12‘ suggest many seemingly disjointed movements, but the relationships are connected through the device of theme transformation; this means a melody can be altered in rhythm, tone, color, dynamic etc., yet its curve remains largely unchanged. (Developed in the late nineteenth century , Stravinsky used this technique in his ‚Ebony Concerto‘ (1945)).
‚Outline No. 12‘ uses (as do the other pieces of this record) the call-and-response pattern traditional to the cotton-field work-songs of the ex-African slaves. This feeling is particularly felt prior to the soprano sax/drum improvisation.

~ Billy Bang, Liner Notes zu „Outline No. 12“, Celluloid 5004 [LP 1983] / Charly CDGR 256 [CD 1998]

Das erste Stück der ersten Seite, „Seeing Together“, beschreibt Bang als einen Trip „through a land of controlled folly“, es ist dicht gestrickt, oft atonal, das Orchester wird von Morris auf eher traditionelle Weise benutzt, um die Solisten punktuell zu unterstützen, er erzeugt einen konstanten Fluss, in dem das Orchester kommt und geht, mal leiser, mal lauter eingreift.

Im dritten und letzten Stück, dem fast 19 Minuten langen „Conception“, werden die Violinen den Klarinetten gegenübergestellt, verschiedenen kleine Kombinationen wechseln sich ab, die Solisten haben mehr Raum, um sich zu präsentieren – Bang: „This piece, although written, is beyond the control of the writer and is left to the genius of the musicians and conductor.“

Komponiert hat all diese spannende Musik Billy Bang.

Valve No. 10 (rec. 1988) ist das zweitletzte der sechs Alben, die Billy Bang zwischen 1981 und 1992 für Soul Note eingespielt hat. Es präsentiert ihn im Quartett mit drei musikalischen Getreuen: Frank Lowe (Tenorsax), Sirone (Bass) und Denis Charles (Drums).
Die Musik ist swingend und melodiös, Charles bringt seine leichten und stets spannenden Rhythmen ins Spiel (das 1982 entstandene Duo-Album der beiden, Bangception habe ich hier mal kurz erwähnt), Lowe bläst wunderbare Soli mit seinem schönen, robusten Ton. Billy Bang selbst klingt hier roh, ungeschliffen, mehr in der Tradition der ländlichen Fiedel seiner Heimat Alabama und in einer Linie mit Stuff Smith als mit den grossen Violinenvirtuosen oder auch dem freien Spiel Ornettes oder Jenkins. Vier der sieben Stücke stammen von Bang, zum Auftakt hören wir Sirone/Paul Mitchells „P.M.“, zum Ausklang dann William Parkers „Holiday for Flowers“ und – ein kleiner Tribut 21 Jahre nach seinem Tod – Coltranes „Lonnie’s Lament“ in einer wunderschönen Version, inklusive eines ruhigen und grossartigen Bass-Solos von Sirone. Auch Bangs „September 23rd“ ist Coltrane gewidmet, Bang rezitiert darin einen Text, eine Art poetische Homage an Coltrane und sein Werk, die Begleitung schaltet sich ein und aus, streckenweise erinnert das ein wenig an Mingus‘ „The Clown“, ist aber sehr viel freier und lyrischer und von einer melancholischen Grundstimmung. Bangs „Bien-Hoa Blues“ ist übrigens nach einer Basis benannt, in der seine Truppe in Vietnam stationiert war.
Das alles klingt ziemlich „inside“ und mag Fans der lauten Töne etwas konsterniert oder gar enttäuscht zurücklassen, für mich ist das aber eine ganz wunderbare Aufnahme, die mit kleinen Irregularitäten und formalen Idiosynkrasien belebt wird.
Und natürlich hoffe ich auch auf eine Soulnote-Box von Bang!

Das letzte Soulnote-Album von Bang ist sein A Tribute to Stuff Smith, Bangs grosses Vorbild. Die Band ist sehr speziell: Sun Ra ist an Piano und Synthesizer zu hören, Andrew Cyrille am Schlagzeug und John Ore am Bass. Auf dem Programm stehen Standards wie „Deep Purple“, „A Foggy Day“, „April in Paris“, „Yesterdays“ und „Lover Man“, sowie Ellingtons „Satin Doll“ und zwei Originals von Smith, „Only Time Will Tell“ und „Bugle Blues“. Die Stücke sind zumeist kurz gehalten („Satin Doll“ dauert acht Minuten, „Lover Man“ und „Deep Purple“ sechseinhalb, die anderen zwischen drei und fünf Minuten). Cyrille swingt die Band auf unkonventionelle Weise, die einen seine Erfahrung im freien Spiel erahnen lässt, Ra legt oft leicht verschrobene Akkorde und fällt mit seltsamem comping auf, Ore ist die Erdung der Musik und Bang (fast hätte ich Smith geschrieben!) der unangefochtene Star, der sein ganzes Können zeigt.
Eins der Highlights in „Deep Purple“, das Ra mit einem Piano-Intro öffnet und fast Monk’sche Weise die Darbietung des Themas durch Smith begleitet.

Weiter komm ich heute nicht mehr, da ich nicht mehr ungestört im Büro sitze… hier noch ein Zitat zum ersten Vietnam-Album aus dem Nachruf in der New York Time:

“Here we had all these grown men in a macho idiom like jazz, in the studio, ‘Let’s hit it’ and all this machismo,” Mr. Leduc said in an interview Tuesday. “They would do a take, and then people would have to go out of the studio between takes to cry, because it was so powerful. And it was so cathartic for everybody.” The music was swaggering, agitated and elegiac by turns, Mr. Bang’s playing brash, folksy and reminiscent at times of Vietnamese string sounds.

~ Steve Smith: „Billy Bang, Jazz Violinist Inspired by Vietnam Experience, Dies at 63“, in: New York Times, 13. April 2011
http://www.nytimes.com/2011/04/14/arts/music/billy-bang-jazz-violinist-dies-at-63.html

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