Re: Die 20 besten Prog-Alben

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gruenschnabel

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KANAANwie passen eigentlich diese beiden Standpunkte zusammen?
Gerade der Jazz wird stark durch Virtuosität geprägt, warum ist das in der Rockmusik falsch?

Oh, das finde ich eine wirklich schöne Frage.
Zum einen habe ich überhaupt nichts gegen Virtuosität. Wie gerne würde ich mich ins 19. Jahrhundert beamen und einem Konzert von Paganini lauschen – das muss umwerfend gewesen sein.
Wahrscheinlich wird’s für mich da langweilig, wo man den Musiker primär als Virtuosen wahrnimmt – mein Wunsch nämlich wäre es wohl, dass die Virtuosität immer zur Vermittlung eines bestimmten Ausdrucksgehalts dient, wenn sie eine Geschichte, eine Botschaft, ein Gefühl, eine Vorstellung formt.
John Coltrane würde ich durchaus als einen Jazz-Virtuosen ansehen. Wie der seine irren Akkordbrechungen über komplexe Akkordverbindungen abzieht, war wohl schon sehr außergewöhnlich. Aber das alles spielt beim Hören nicht die dominierende Rolle für mich: Coltrane macht keinen Zirkus aus dieser Veranstaltung. Er vermittelt etwas zugleich Emotionales als auch Geistiges, falls man diese Trennung überhaupt vornehmen möchte. Er „spricht“ in Musik, und zwar auf eine Weise, die mit Worten unmöglich wäre.
Miles Davis hat in seiner Laufbahn bestimmt auch die ein oder andere virtuose Phrase geblasen. Aber er, dem ja ein Teil der Jazzwelt sogar seine handwerkliche Eignung zumindest in den letzten Jahrzehnten abspricht, ist für mich letztlich kein Virtuose im tradierten Sinne. Er hebt sich nicht heraus aus der Masse von Trompetern, weil er technisch besondere Anforderungen erfüllt hätte. Ähnlich wie Coltrane, aber mit ganz anderen (weniger instrumental-virtuosen) Mitteln besticht er durch ein umwerfendes, berührendes, faszinierendes musikalisches Charisma, eine Ausdruckskraft, die nur sehr begrenzt mit dem fleißigen Üben von Skalen und technischer Perfektion zu begründen ist. Aber auch bei Davis möchte ich die instrumentaltechnische Versiertheit nicht kleinreden: Der Mann konnte so enorm viele Dinge nur deshalb fantastisch umsetzen, weil er sein Instrument für diese Zwecke beherrschte. Das war kein talentierter Stümper.
Virtuosität in der Rockmusik ist genauso wenig „falsch“ wie im Jazz, der Klassik und sonstwo.. Ich mag es sehr, wenn Energie über physisch animierendes Spiel transportiert wird. Ich mag aber kein „Virtuosengehabe“ – und das gilt nicht nur für Rockmusik. Ich bin total abgetörnt, wenn Rick Wakeman im Virtuosenmantel (der legt es ja förmlich darauf an, im Scheinwerferlicht zu schwitzen) und Franz-Liszt-Gedächtnis-Frisur seinen Soloteil beim Yes-Konzert bekommt: Und dann spielt er unglaublich belanglose Akkordfolgen mit Trillerchen hier und Arpeggio dort – sentimentales Geschwätz, ohne wirklich was zu sagen zu haben. Blubberei. Und dann holt er aufmerksamkeitsheischend aus und packt für eine halbe Minute durch den Kontrast verhältnismäßig schnell wirkende, aber musikalisch völlig unmotiviert erscheinende Tonrepetitionen aus, die den Beifall der Zuhörer gewaltsam erzwingen. Zu hören übrigens z.B. auf der unseligen „Anderson / Bruford / Wakeman / Howe“-Tour, falls Beispiele gefragt sein sollten. Das ist musikalische Schmalspurkost der dreisten Sorte, affektiertes Gehabe.
Noch schlimmer Keith Emerson. Immer drauf. Läufe, Sprünge ohne Sinn und Gefühl, hin und her, Tremolo links, über die Tasten rutschen rechts, Hauptsache schnell, laut und mit Kraft. Jazzige Improvisationen (in wohl sehr engen Grenzen), die unglaublich stumpf und grobschlächtig sind. Viele falsche Töne, mangelnde Präzision, notdürftig überspielte Töne, fehlende Töne. Mit Messern kämpfen gegen die Orgel. Das ist schon fast sinnbildlich gewesen bei ihm. Gewalt am Instrument mit Krach und Show. Mich hat das wahnsinnig geärgert und ärgerlich gemacht, wenn ich das früher gehört (und gesehen) habe. Dabei konnte er ja auch anders. Da gibt es Stellen von ihm in „Take a pebble“ oder „Tarkus“, die wirklich schön und charmant eingespielt sind. Aber dominant war die Show der großen, aber leeren Gesten. Emerson war ein Poser, ein (Zur-)Schausteller, ein leidlicher Trickser, aber es gibt wirklich Leute, die glauben, er sei ein begnadeter Virtuose. Ich habe nichts dagegen, wenn Leute auf diese Show abfahren. Ich habe aber was dagegen, wenn die Show zu etwas stilisiert, überhöht und mystifiziert wird, was sie gar nicht ist.

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